Rudolf Bultmann

Jesus Christus und die Mythologie

Der verbreitete Vorwurf gegen Bultmann ist, er habe, um den Glauben wissenschaftsfähig zu machen, alles über Bord geworfen, was vor der modernen Wissenschaft nicht bestehen kann, wie Jungfrauengeburt, Wunder, leeres Grab usw. Sein Kriterium sei im Grunde die Naturwissenschaft, und er glaube nur noch das, was er rational begreifen könne, d. h. er glaube praktisch nichts mehr.

Solcher Vorwurf ist falsch. 

Bultmann macht deutlich, daß die Naturwissenschaft gar nicht in der Lage ist, die ganze Wirklichkeit zu umfassen, da Gott:

„jenseits der Welt und jenseits des wissenschaftlichen Denkens ist“. 

Bultmann glaubt an den Gott, von dem die Naturwissenschaft zu schweigen hat, da Gott innerweltlich nicht nachweisbar ist, an den Gott, von dem die biblische Mythologie redet, wenn auch in unangemessener Weise. 

Die Tatsache, daß Bultmann das mythologische Weltbild der Bibel vom Standpunkt der modernen Naturwissenschaft aus kritisiert, bedeutet nicht, daß damit für ihn die Naturwissenschaft das letzte Wort behält. 

Er sieht vielmehr in den mythologischen Aussagen des Neuen Testaments – bei aller Kritik an ihnen – eine tiefere Bedeutung. „Mythen sind Ausdruck für die Einsicht, daß der Mensch nicht Herr der Welt und seines Lebens ist, daß die Welt, in der er lebt, voller Rätsel und Geheimnisse steckt. 

Die Mythologie ist der Ausdruck eines bestimmten Verständnisses der menschlichen Existenz. 

Sie glaubt, daß die Welt und das Leben ihren Grund und ihre Grenze in einer Macht haben, die außerhalb all dessen ist, was wir berechnen und kontrollieren können.“ 

Insofern also kommt der Mythos der ganzen, die Welt umfassenden Wahrheit näher als die Naturwissenschaft. 

Nur: Die Mythologie spricht über diese Macht auf unzureichende Weise, denn sie spricht von ihr wie von einer weltlichen Macht. 

„Der Mythos objektiviert das Jenseitige zum Diesseitigen.“ 

Die göttliche Kausalität wird eingeführt als ein Glied in der Kette der Ereignisse. Das Handeln Gottes wird dargestellt als eines, das den Lauf der Natur durchbricht, durchlöchert.

„Das ganze Weltverständnis, das in der Predigt Jesu wie allgemein im Neuen Testament vorausgesetzt wird, ist mythologisch; das heißt: 

Die Vorstellung der Welt, die in die drei Stockwerke Himmel, Erde und Hölle eingeteilt ist, die Vorstellung, daß übernatürliche Kräfte in den Lauf der Dinge eingreifen, und die Wundervorstellung, insbesondere die, daß übernatürliche Kräfte in das Innenleben der Seele eingreifen, die Vorstellung, daß der Mensch vom Teufel versucht und verdorben und von bösen Geistern besessen werden kann. 

Dieses Weltbild nennen wir mythologisch, da es sich von dem Weltbild unterscheidet, das von der Wissenschaft seit ihrem Anfang im klassischen Griechenland gebildet und entwickelt wurde und das auch von allen modernen Menschen angenommen worden ist.“

Für den Menschen von heute sind Vorstellungen von Jungfrauengeburt usw., die dem mythologischen Weltbild entsprechen, nur mit einem sacrificium intellectus, dem Verzicht auf das Verstehen, zu glauben. 

Viele lehnen das Christentum ab, weil es ihrem Verstand zuwiderläuft, andere sehen in solchem Opfer des Verstandes das Wesen ihres christlichen Glaubens. 

Aber beide Male wird der Anstoß des christlichen Glaubens auf eine falsche Ebene geschoben, denn die christliche Botschaft wendet sich nicht an die theoretische Vernunft. 

„Die Unbegreiflichkeit Gottes liegt nicht auf der Ebene theoretischer Gedanken, sondern auf der Ebene der persönlichen Existenz.“ 

Nicht darin besteht die Unbegreiflichkeit Gottes, daß er auf irrationale Weise etwas tut, das den natürlichen Lauf der Dinge durchbricht, sondern weil er mir als der lebendige Gott begegnet.

Bultmann will durch seine Entmythologisierung des Neuen Testaments, durch das Abstreifen des alten, mythologischen Weltbildes die tiefere und eigentliche Bedeutung der mythologischen Anschauungen freilegen, er will den Mythos nicht eliminieren, sondern existential interpretieren, und glaubt sich dazu insofern berechtigt, als schon Paulus und vor allem Johannes die christliche Botschaft auf solche Weise entmythologisiert haben und so deutlich machten, daß die Bibel von einer neuen Existenzmöglichkeit des Menschen spricht.

Die Tatsache, daß die Worte der Schrift Worte Gottes sind, „bevollmächtigte Worte über unsere Existenz“, kann man nicht beweisen. 

Der Glaube kann sich nicht gegen den Einwand, eine Illusion zu sein, verteidigen. 

Daß eine geschichtliche Person, Jesus von Nazareth, das ewige Wort, der Logos, die Heilstatt Gottes ist, kann der objektive Historiker als solcher nicht erkennen. 

Bultmann sieht darin nicht eine Schwäche des Glaubens, sondern „seine wahre Stärke“, denn wer jede Sicherheit aufgibt, wird wahre Gewißheit finden. Der Mensch kann von Gott kein objektivierendes Wissen haben.

Bultmanns glaubendes „dennoch“ und „trotzdem“ angesichts der Verborgenheit des Handelns Gottes, seine Frömmigkeit neben seiner Kritik aller Objektivierbarkeit des Glaubens sind eindrucksvoll. 

Für ihn ist „radikale Entmythologisierung die Parallele zur paulinisch-lutherischen Lehre von der Rechtfertigung ohne des Gesetzes Werk allein durch den Glauben“. 

Sie ist ihm die konsequente Durchführung für das Gebiet des Wissens und Denkens. 

„Wie die Lehre von der Rechtfertigung zerstört die Entmythologisierung jedes Verlangen nach Sicherheit. Es gibt keinen Unterschied zwischen der Sicherheit auf der Basis von guten Werken und der Sicherheit, die auf objektivierendem Wissen beruht.“ 

Der Mensch, der an Gott glaubt, muß wissen, daß er nichts in Händen hat, woraufhin er glauben könnte, daß er gleichsam in die Luft gestellt ist und keinen Ausweis für die Wahrheit des ihn anredenden Wortes verlangen kann. Denn „Grund und Gegenstand des Glaubens sind identisch“.

An das Wort Gottes glauben, heißt also für Bultmann 

„alle rein menschliche Sicherheit aufzugeben und so die Verzweiflung abzustreifen, die aus dem Versuch, die Sicherheit zu finden, entsteht; ein Versuch, der immer vergebens ist“.

Uta Ranke-Heinemann

Rudolf Bultmann: Jesus Christus und die Mythologie | ZEIT ONLINE http://www.zeit.de/1983/11/jesus-christus-und-die-mythologie/komplettansicht 

2 Gedanken zu “Rudolf Bultmann

  1. Am selben Tag, an dem ich den Bultmannartikel später las, fiel mir beim Proben in einer sehr alten offiziell „entweihten“kleinen Kirche ein komplettes Theaterstück ein“Der kleine Engel“. Ich begann darüber nachzugrübeln, ob auch ein „kleiner Teufel“ vorkäme….wohlgemerkt, ich bin eigentlich aus der Ecke radikal-feministische Wenn überhaupt Theologie…..plötzlich kam mir das alte Buch von C.S. Lewis „Anweisungen eines Unterteufels“ (o.ä.) wieder in den Sinn und all die Engelbilder, Bücher usw. mit denen sich die Menschen umgeben und die Teufelsgestalten aus den Stories, Mangas…..
    sehr nachdenklich bin ich geworden…..die Sehnsucht nach Bildern und Gestalten…..

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