Hoffnung

5 Sonette und ein Epilog über Kirche zwischen Selbsterhaltung und prophetischem Aufbruch

I. Sitzung im August

Man tritt ein, wie man es gewohnt ist,
die Mappe unter dem Arm,
den Blick auf die Agenda.
Die Stühle stehen im Kreis,
das Wasser ist gestellt,
doch wo sind die Stimmen von draußen?

Man spricht von Mitgliederzahlen,
von Finanzen,
von Strukturreformen.
Während draußen Menschen hungern,
während die Klimakrise eskaliert,
während Geflüchtete ertrinken.

„Das Reich Gottes lässt sich nicht verwalten“,
sagt eine junge Theologin.
Die Fenster müssen aufgestoßen werden –
nicht trotz des Sommers,
sondern weil er drängt,
weil die Welt brennt.

II. Der leere Gemeindesaal

Die Tische sind abgewischt,
die Stühle gestapelt.
Aber warum ist er leer?
Weil wir hier drinnen warten,
statt draußen präsent zu sein,
wo das Leben pulsiert.

Die Uhr tickt,
zählt verpasste Chancen.
Die Kaffeemaschine blinkt rot –
bereit für ein offenes Café,
für Begegnungen ohne Schwellen,
für Kirche als Gastgeberin.

Ein Vogel ruft draußen,
wie der Prophet Amos:
„Recht ströme wie Wasser!“
Die Stille hier drinnen
ist nicht gottgewollt,
sondern selbstverschuldet.

III. Protokoll

Man schreibt,
um Kontinuität zu wahren,
um alles beim Alten zu lassen.
Aber Jesus protokollierte nicht –
er heilte, teilte Brot,
stellte sich auf die Seite der Marginalisierten.

Was, wenn wir stattdessen notierten:
„Heute haben wir die Türen geöffnet
für die Wohnungslosen.
Heute haben wir demonstriert
für Klimagerechtigkeit.
Heute haben wir Asyl gewährt.“

Die Option für die Armen
steht nicht im Protokoll,
aber sie steht im Evangelium.

Ein neues Dokument entsteht:
nicht durch Beschlüsse,
sondern durch befreiendes Handeln,
durch Parteilichkeit für die Entrechteten,
durch gelebte Solidarität.

IV. Abendandacht

Die Kerzen sind angezündet,
und sie sind viele gekommen –
auch die ohne Mitgliedsausweis,
auch die ohne Taufschein,
auch die, die zweifeln.

Ein Lied wird angestimmt:
„Vertraut den neuen Wegen!“
Die Stimmen werden kräftig,
trotzig fast,
weil hier gesungen wird,
was draußen gelebt werden muss.

Ein Psalm über Gerechtigkeit –
„Selig sind, die hungern nach Gerechtigkeit!“
Ein Gebet für die Verfolgten weltweit,
für die Opfer struktureller Gewalt,
für alle, die unter Systemen leiden.
Und dann nicht Stille,
sondern Bekenntnis:
„Wir stehen auf der Seite der Unterdrückten.“

Das Kerzenlicht wird getragen
nach draußen,
als Zeichen:
Kirche ist Bewegung,
nicht Gebäude.

V. Kirchenkaffee

Die Tische sind anders gestellt:
offen, einladend, ohne Hierarchie.
Die Thermoskanne dampft,
der Kuchen ist selbstgebacken,
aber vor allem:
Die Türen stehen weit offen.

Man spricht nicht über Belangloses,
sondern über Asylpolitik,
über Care-Arbeit und ihre Entlohnung,
über Rüstungsexporte,
über die Würde aller Menschen –
ohne Wenn und Aber.

„Was würde Jesus tun?“, fragt jemand.
„Er würde nicht hier drinnen sitzen“,
antwortet ein anderer.
„Also: Wann gehen wir raus?“

Frau Schmidt organisiert bereits
die Tafel für nächste Woche.
Herr Müller die Demo am Samstag.
Die Konfirmandin einen Workshop
über Rassismus und Kirche.

Man steht auf
und geht,
aber nicht nach Hause,
sondern auf die Straße,
ins Asylheim,
zur Mahnwache,
dorthin, wo Kirche sein muss:
bei den Menschen am Rand.

VI. Epilog: Befreiung

Ein Blatt liegt auf dem Tisch,
und darauf steht:
„Kirche der Freiheit –
nicht als Slogan,
sondern als Programm.“

Die Sonne fällt durch offene Fenster,
durch offene Türen,
durch eine Kirche,
die endlich begreift:

Der Gott der Befreiung
duldet keine Neutralität.
Das Evangelium ist politisch –
war es immer.
Jesus war kein Verwalter,
sondern ein Revolutionär der Liebe.

Etwas wächst:
Eine Kirche, die sich einmischt,
die Partei ergreift für die Schwachen,
die prophetisch aufsteht gegen Unrecht,
die ökumenisch und interreligiös
für Frieden und Gerechtigkeit streitet.

Nicht morgen.
Jetzt.
Nicht irgendwo.
Hier.
Nicht vielleicht.
Gewiss.

Wie die Senfkörner im Gleichnis:
klein, unterschätzt,
aber mit der Kraft,
die Welt zu verwandeln.

Denn wo zwei oder drei
versammelt sind im Geist der Befreiung,
da beginnt das Reich Gottes –
konkret, solidarisch, gerecht.

Claudius/Herzberger

Ein Gedanke zu “Fromme Runden

  1. Hat mir gut gefallen! Genauso probieren wir es in der Stephanusgemeinde in Borchen.

    Nicht immer klappt es, aber das ist ja kein Problem……

    Like

Hinterlasse einen Kommentar