Darf sich Kirche in Politik einmischen?

Ja, die Kirche darf sich in die Politik einmischen, und viele sehen darin sogar eine Pflicht, insbesondere bei ethischen Fragen, Menschenrechten und dem Gemeinwohl.

Wobei sie sich aber von tagesaktuellen Parteipositionen fernhalten sollte, um ihre Glaubwürdigkeit zu wahren und als moralischer Kompass zu wirken.

Die Meinungen gehen auseinander, wie stark diese Einmischung sein sollte, aber die allgemeine Tendenz ist, dass Kirche sich für christliche Werte wie Nächstenliebe, Bewahrung der Schöpfung und Gerechtigkeit einsetzen muss, um ihre Rolle in der Gesellschaft wahrzunehmen, statt sich komplett zu neutralisieren.


Argumente für die Einmischung:

Glaubensauftrag:  Der Glaube ist nicht nur privat, sondern hat eine politische Dimension; Schweigen bei Ungerechtigkeit wäre ein Versagen.


Wertevermittlung:  Die Kirche kann christliche Werte als Leitlinien für politische Entscheidungen einbringen, z.B. in der Sozialpolitik oder beim Klimaschutz.


Menschliches Wohl:  Wenn das Wohl der Menschheit gefährdet ist, sieht sich die Kirche verpflichtet, eine Stimme zu erheben.


Demokratie stärken:  Als Institution kann sie Halt geben, Sinn stiften und so das zivile Miteinander und die Demokratie fördern.


Grenzen der Einmischung:
Keine Parteipolitik: Die Kirche soll nicht Partei ergreifen, sondern Partei für die Menschen ergreifen und nicht in tagespolitische Grabenkämpfe verfallen.


Neutralität wahren:  Der Staat muss religiös neutral bleiben, aber die Kirche agiert in der Gesellschaft und muss ihre Unabhängigkeit bewahren.


Spielfeld wechseln:  Eine zu starke Fokussierung auf Tagespolitik kann von der grundlegenden spirituellen Aufgabe ablenken.


Praxis in Deutschland:  Das deutsche Grundgesetz sieht keine strikte Trennung von Staat und Kirche vor; der Staat arbeitet mit Religionsgemeinschaften zusammen, z.B. beim Religionsunterricht.


Die Bundesregierung schätzt die Einbindung der Kirchen bei ethischen und sozialen Fragen.


Fazit: Die Kirche darf und muss sich politisch einmischen, aber mit Augenmaß, indem sie ihre ethischen Grundsätze in die Debatte einbringt, ohne sich selbst zu einer politischen Partei zu machen.

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17.12.25 Claudius Herz

Eine graue Runde

Für Maren und ihr Lebenswerk

Im Januar am Beginn des Jahres, ganz zu Beginn,
Diese Runde meist deutlich angegraut.
Alte Männer, das Haupthaar schütter, die Bärte grau,
wirken müde, die Köpfe interessiert nach vorne geneigt.
Viele alte, weise Männer, aus faltigem Gesicht
mit leerem, trüben Blick.

Viele alte Frauen, Haare gefärbt,
Einige onduliert, andere toupiert, Hochfrisur.
Mit Zweckfrisuren, kurzer Haarschnitt, Fasonschnitt,
männlich streng geschnitten.
Schminke im Gesicht, dick aufgetragen,
rote Lippen, viel zu rot,
auch Rouge auf den fahlen Wangen.
Backenknochen notdürftig weich geschminkt.

Eine alte graue Runde, lustlos.
Die Raumluft ist geschwängert
von billigem Rasierwasser:
Old Spice, Irisch Moos, Tabac, Pitralon.
Frauen-Düfte: Tosca, Kölnisch Wasser, Gabriela Sabatini.

Sie halten fest an alten Riten:
Begrüßung, Anwesenheitslisten, Tagesordnung.
Wir gedenken der Verstorbenen – sich kurz erhebend.
Schweigeminute für die verdienten Hingeschiedenen.

Szenenwechsel.

Eloquente Profis, auch dabei,
viele Frauen, wenige Männer.
Ein kleiner Lichtblick.
Ein wenig wie erweitertes Zentralkomitee
der längst vom Zeitenlauf verschluckten Regime.

Beklagt wird alles, Zeitgeist, Mitarbeiter ausgebrannt
und am System krank gemacht.
Niemand nimmt mehr Verantwortung ernst.
Wie war das früher doch anders?
Schöner, besser, früher.
Früher immer alles besser.

Dann reden die Profis.

Ja, ja, die Profis reden smart.
Fachbegriffe fliegen,
sind stolz auf das angelernte Vokabular
aus Psychologie, Erziehungswissenschaft.
Management-Vokabular:
Projektmanagement, Qualitätsmanagement, Lean Management.

Das Unternehmensberatungsvokabular restlos aufgesagt,
falsch gewählt, unecht.
Mit roten Wangen dargeboten, falsche Versprechungen.

Keiner sagt es, wagt es nicht,
keiner hat mehr Kraft zu sagen:
Was wabert durch den Raum?

Unsere Zeit, die ist vorbei.
Nichts wird mehr nützen, nichts mehr helfen.
Unsere Zeit, die ist vorbei,
unverrückbar, obsolet, verschluckt, verplempert,
aus der Zeit gefallen.

Im Abklingbecken der Geschichte wiedergefunden.
Da ist noch warm, vielleicht noch ein paar Jahre.
Kann man kuscheln, bleiben, die alten Zeiten weinen.
Aber jeder spürt allmählich:
Wird es kälter, immer kälter.

Die Jungen spielen nicht mehr mit.
Die Jungen, ach ja, die Jungen.
Die haben ihre eigenen Sorgen,
ihre eigene Art, mit der Welt umzugehen.
Was den Alten als Eigennutz erscheint,
ist vielleicht nur Selbstschutz
in einer Zeit, die keinen mehr trägt.

Liebe Menschen, sagt es doch: Es ist vorbei.
Sagt es bitte ehrlich: Es ist vorbei.

Bitte erst mal warten, klagen, trauern, weinen,
zur Ruhe kommen, warten, müssen können,
schauen, blicken, träumen, schlafen,
neue Kräfte sammeln.

Da wird vielleicht die neue Hoffnung keimen,
erst ganz klein und zart und grün,
dann stärker, größer werdend.

Was da ist, was kommt, das sehen wir dann.

Wie es wirklich werden wird, das weiß noch keiner.
Jeder kann es träumen.

Dann kommt ein guter Satz,
der in sich birgt etwas Kluges:
Wer träumen kann, der kann auch tun.

Darauf dürft ihr hoffen, aber lasst euch Zeit.

Bitte, bitte nicht dran ziehen.
Hoffnung braucht Geduld und Ruhe,
um zu wachsen, zu gedeihen.

Jesus war ein Revolutionär

Wir feiern den Advent nur nebenbei – wenn überhaupt. Es sind schließlich die hektischen Wochen vor Weihnachten:

Geschenke kaufen, Feiertagsbesuche planen, Festessen organisieren, dazwischen Weihnachtsfeiern und bitte auch etwas Besinnlichkeit. Ach ja, und wieder eine Kerze anzünden, wie die Zeit vergeht!

Dabei hat der Advent wenig mit Weihnachten zu tun. Und viel damit, wie wir durchs Leben gehen. In der Antike – und auch heute noch – schaute man auf das Bewährte, erklärt Siegfried Zimmer. Gut war, was schon lange funktionierte. Neues machte Angst, die Zukunft war ungewiss.

Jesus aber war ein Revolutionär – er blickte nach vorn.

Er versprach den Leidenden künftigen Trost und den Trauernden das Reich Gottes.

Das Gute kommt noch. Und wer zurückblickt, so sagte es Jesus, der ist nicht geschaffen für das Reich Gottes, der erstarrt im Hier und Jetzt. Damit uns das nicht passiert, gibt es den Advent.

Jesus ist war ein Revolutionär

Lebenshilfe Möglichkeitsdenker

Überblick

Lebenshilfe Möglichkeitsdenker ist ein innovatives Graswurzelprojekt im Bereich der Teilhabe- und Inklusionsförderung, das Menschen mit Beeinträchtigungen als aktiv Gestaltende zivilgesellschaftlichen Engagements in den Mittelpunkt stellt. Der Begriff „Möglichkeitsdenker“ beschreibt dabei eine Haltung, die nicht von Defiziten, sondern von Potenzialen und Möglichkeiten ausgeht.

Gründung und Gründungspersonen

Das Möglichkeitsdenker-Projekt wurde von einer Gruppe engagierter Personen aus Praxis und Wissenschaft initiiert, die gemeinsam neue Wege der inklusiven Teilhabe entwickeln wollten. Als Graswurzelprojekt entstand es nicht top-down durch institutionelle Vorgaben, sondern bottom-up aus der konkreten Praxis und dem persönlichen Engagement der Beteiligten.

Gründungsteam

Armin Herzberger fungierte als zentrale Gründungsperson und Initiator des Projekts. Als Sozialpädagoge mit langjähriger Erfahrung in der Lebenshilfe-Arbeit und späterer akademischer Tätigkeit brachte er die praktische Expertise und theoretische Reflexion zusammen. Herzberger dokumentiert und reflektiert das Projekt sowie seine theoretischen und literarischen Überlegungen zu Inklusion auf seinem persönlichen Blog.

Blog von Armin Herzberger:

Auf seinem Blog veröffentlicht Herzberger unter anderem den bemerkenswerten Essay „Was hat Inklusion mit Rilke zu tun?“, der die Verbindung zwischen literarischer Sensibilität, humanistischer Bildung und inklusiver Pädagogik aufzeigt. Diese Reflexionen verdeutlichen, dass Inklusion nicht nur eine sozialpolitische oder organisatorische Aufgabe ist, sondern auch eine Frage der Haltung, der Wahrnehmung und des menschlichen Miteinanders – Dimensionen, die in der klassischen Literatur oft eindringlich thematisiert werden.

Erika Schmidt war als Person mit eigenem Assistenzbedarf von Beginn an maßgeblich an der Konzeptentwicklung beteiligt. Ihre Perspektive als Expertin in eigener Sache prägte die partizipative Ausrichtung des Projekts entscheidend.

Wolfgang Nollmann und Vanessa Nollmann, beide mit eigenem Assistenzbedarf, waren ebenfalls Gründungsmitglieder und verkörperten von Anfang an den Grundgedanken, dass Menschen mit Beeinträchtigungen nicht nur Zielgruppe, sondern aktive Gestalter*innen des Projekts sind.

Wolfgang Nollmann übernahm darüber hinaus eine besondere Rolle als Referent und Dozent an der Universität Siegen im Studiengang Soziale Arbeit/Sozialpädagogik. In dieser Funktion bringt er seine Erfahrungen und Perspektiven direkt in die Ausbildung künftiger Sozialarbeiter*innen ein und trägt so zur Sensibilisierung und Kompetenzentwicklung der Studierenden bei. Diese direkte Einbindung eines Menschen mit Assistenzbedarf in die akademische Lehre ist exemplarisch für den Möglichkeitsdenker-Ansatz.

Dr. Angelika Magiros brachte ihre Expertise im Bereich des unterstützten Wohnens und der Beratung ein. Als Mitarbeiterin bei der Lebenshilfe Bundesvereinigung (LHBV) trug sie wesentlich zur fachlichen Fundierung und konzeptionellen Ausarbeitung bei sowie zur Vernetzung mit der bundesweiten Lebenshilfe-Struktur.

Weitere beteiligte Dozentinnen und Expertinnen in eigener Sache

Das Möglichkeitsdenker-Projekt zeichnet sich dadurch aus, dass neben Wolfgang Nollmann weitere Menschen mit Beeinträchtigungen als Dozentinnen und Referentinnen in die akademische Lehre und Weiterbildung eingebunden sind:

Dr. Martin Reichstein ist als Wissenschaftler mit eigener Betroffenheit im Projekt aktiv und bringt seine akademische Expertise sowie seine persönlichen Erfahrungen in Forschung und Lehre ein. Seine Doppelrolle als Wissenschaftler und Mensch mit Beeinträchtigung verkörpert die Überwindung traditioneller Rollenzuschreibungen.

Dr. Miriam Düber und Dr. Hanna Weinbach engagieren sich ebenfalls als Dozentin und Expertin in eigener Sache im Kontext des Projekts. Sie tragen mit ihrer wissenschaftlichen Qualifikation und ihrer persönlichen Perspektive zur Weiterentwicklung inklusiver Hochschuldidaktik bei.

Darüber hinaus sind weitere Betroffene als Dozent*innen in verschiedenen Bildungskontexten aktiv, die ihre Erfahrungen und ihr Wissen weitergeben. Diese Einbindung von Menschen mit Beeinträchtigungen als Lehrende auf Augenhöhe ist ein zentrales Merkmal des Möglichkeitsdenker-Ansatzes und trägt zur Transformation des Bildungssystems bei.

Wissenschaftliche Begleitung

Die wissenschaftliche Begleitung erfolgte durch das Zentrum für Planung und Evaluation Sozialer Dienste (ZpE) der Universität Siegen:

Prof. Dr. Albrecht Rohrmann übernahm die wissenschaftliche Leitung und Begleitung des Projekts. Als renommierter Forscher im Bereich der Heilpädagogik und Behindertenhilfe brachte er umfassende Expertise in Fragen der Inklusion, Teilhabe und Sozialraumgestaltung ein.

Prof. Dr. em. Norbert Schwarte (verstorben) war ebenfalls maßgeblich an der wissenschaftlichen Konzeption beteiligt. Seine Arbeiten zur gemeindenahen Psychiatrie und sozialen Integration prägten die theoretischen Grundlagen des Projekts nachhaltig.

03.12.25 HeClki

Weblink zum ZpE:

Charakteristika der Gründungsphase

Die Gründungskonstellation war von Beginn an durch eine gleichberechtigte Zusammenarbeit zwischen Menschen mit und ohne Beeinträchtigungen gekennzeichnet. Dies spiegelte bereits im Gründungsteam den Paradigmenwechsel wider, den das Projekt anstrebte: Nicht über, sondern mit Menschen mit Beeinträchtigungen zu denken und zu handeln.

Die enge Verzahnung von Praxiserfahrung (Lebenshilfe-Arbeit) und wissenschaftlicher Reflexion (Universität Siegen) bildete von Anfang an ein Alleinstellungsmerkmal des Projekts.

Als Graswurzelprojekt entwickelte sich die Initiative organisch aus der konkreten Begegnung und dem gemeinsamen Engagement der Beteiligten, ohne auf bestehende institutionelle Strukturen oder Finanzierungen zu warten. Diese Entstehungsweise prägt bis heute die Arbeitsweise und das Selbstverständnis des Projekts.

Die Einbindung mehrerer Menschen mit Beeinträchtigungen als akademische Dozent*innen war von Anfang an konstitutiv für das Projekt und demonstriert praktisch die Möglichkeiten inklusiver Bildung und Wissenschaft.

Entstehungsgeschichte

Das Konzept der Möglichkeitsdenker entwickelte sich im Kontext der deutschen Behindertenhilfe und der Lebenshilfe-Bewegung. Es steht in der Tradition der Selbstbestimmt-Leben-Bewegung und der UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK), die 2009 in Deutschland ratifiziert wurde.

Internationale Inspiration: Lebenshilfe Graz

Wichtige Impulse und Anregungen für das Möglichkeitsdenker-Konzept kamen aus Österreich, insbesondere von der Lebenshilfe Graz. Die österreichische Lebenshilfe-Bewegung entwickelte bereits früh innovative Ansätze der Personenzentrierung und Selbstbestimmung, die als Ideengeber für die deutsche Entwicklung dienten. Der fachliche Austausch zwischen österreichischen und deutschen Lebenshilfe-Organisationen trug wesentlich zur konzeptionellen Weiterentwicklung bei.

Weblink:

Die theoretischen Grundlagen wurzeln in der Capability-Approach-Theorie von Amartya Sen und Martha Nussbaum sowie in der deutschen und österreichischen Sozialpädagogik-Tradition, die Empowerment und Subjektorientierung betont.

Kernkonzepte

Paradigmenwechsel

Das Projekt verkörpert einen Paradigmenwechsel von der traditionellen Fürsorge-Perspektive hin zu einer anerkennungsorientierten Praxis, in der Menschen mit Unterstützungsbedarfen:

  • Als Expert*innen in eigener Sache anerkannt werden
  • Von Hilfeempfängerinnen zu aktiven Gestalterinnen werden
  • Bürgerschaftliches Engagement praktizieren
  • Ihre Fähigkeiten und Ressourcen einbringen können
  • Als Dozent*innen und Lehrende tätig werden

Zukunftsplanung

Ein zentraler methodischer Ansatz im Möglichkeitsdenker-Projekt ist die personenzentrierte Zukunftsplanung (Person Centered Planning). Diese Methode stellt die Wünsche, Träume und Ziele der Person mit Beeinträchtigung in den Mittelpunkt und entwickelt daraus konkrete Schritte zur Verwirklichung. Zukunftsplanung bedeutet:

  • Die eigenen Lebensvorstellungen zu artikulieren
  • Unterstützer*innenkreise aufzubauen
  • Konkrete Teilhabeziele zu entwickeln
  • Ressourcen im Sozialraum zu erschließen
  • Selbstbestimmung aktiv zu gestalten

Theoretische Verortung

Das Konzept verbindet verschiedene theoretische Ansätze:

  • Sozialraumorientierung: Einbindung in lokale Gemeinwesen
  • Community Care: Gegenseitige Unterstützung statt einseitiger Versorgung
  • Partizipationsforschung: Inklusive Forschungsmethoden
  • Capability Approach: Befähigung zur Verwirklichung von Lebenschancen
  • Personenzentrierte Zukunftsplanung: Selbstbestimmte Lebensgestaltung
  • Peer-Learning: Lernen von und mit Menschen mit Beeinträchtigungen

Wissenschaftliche Kooperation mit der Universität Siegen

Fakultät für Bildung, Architektur, Künste und ZpE

Eine zentrale Rolle in der wissenschaftlichen Fundierung und Begleitung des Möglichkeitsdenker-Projekts spielt die Universität Siegen, insbesondere die Fakultät für Bildung, Architektur, Künste mit dem Fachbereich Soziale Arbeit und Sozialpädagogik sowie das Zentrum für Planung und Evaluation Sozialer Dienste (ZpE).

Die Zusammenarbeit umfasst:

  • Entwicklung theoretischer Grundlagen für inklusives bürgerschaftliches Engagement
  • Begleitforschung zu Transformationsprozessen in der Behindertenhilfe
  • Konzeption und Durchführung von Lehrveranstaltungen
  • Praxisforschung mit partizipativen Methoden
  • Transfer zwischen wissenschaftlicher Theorie und sozialpädagogischer Praxis
  • Einbindung von Menschen mit Beeinträchtigungen als Lehrende und Referent*innen

Weblinks zur Universität Siegen:

Seminar- und Lehrkonzepte

Im Rahmen der Kooperation entstanden innovative Seminarkonzepte, die Studierende der Sozialen Arbeit mit der Praxis des inklusiven Engagements vertraut machen:

  • „Soziale Arbeit mit Menschen mit besonderen persönlichen Lebenslagen“
  • „Bürgerschaftliches Engagement und Inklusion“
  • „Theorie-Praxis-Transfer in der Sozialpädagogik“

Diese Seminare verbinden theoretische Reflexion mit Praxisbesuchen und ermöglichen direkte Begegnungen zwischen Studierenden und Möglichkeitsdenkern. Besonders hervorzuheben ist die Einbindung mehrerer Dozent*innen mit Beeinträchtigungen im Studiengang Soziale Arbeit/Sozialpädagogik:

  • Wolfgang Nollmann als Referent für Fragen der Selbstbestimmung und Teilhabe
  • Dr. Martin Reichstein als wissenschaftlicher Dozent
  • Dr. Miriam Düber als Expertin für inklusive Bildung
  • Weitere Betroffene als Expert*innen in eigener Sache

Durch diese Lehrpraxis lernen Studierende unmittelbar von der Expertise von Menschen mit Assistenzbedarf und erleben praktisch, wie inklusive Hochschullehre gestaltet werden kann.

Inklusion und literarische Bildung

Die Verbindung von Inklusion und humanistischer Bildung wird in den Lehrveranstaltungen thematisch aufgegriffen. Der auf dem Blog von Armin Herzberger veröffentlichte Essay „Was hat Inklusion mit Rilke zu tun?“ dient dabei als Reflexionsgrundlage für die Frage, wie literarische Sensibilität und poetische Wahrnehmung zu einem vertieften Verständnis von Menschenwürde, Anderssein und Teilhabe beitragen können.

Weblink:

Das Forschungsbüro

Entstehung und Aufgabe

Im Kontext der Kooperation zwischen Lebenshilfe-Organisationen und der Universität Siegen entstand ein Forschungsbüro, das als Schnittstelle zwischen Wissenschaft und Praxis fungiert. Das Forschungsbüro verfolgt mehrere Ziele:

  • Partizipative Forschung: Menschen mit Beeinträchtigungen werden als Co-Forscher*innen in Forschungsprozesse einbezogen
  • Praxisbegleitung: Wissenschaftliche Begleitung von Projekten inklusiven Engagements
  • Wissenstransfer: Vermittlung zwischen akademischer Forschung und sozialpädagogischer Praxis
  • Dokumentation: Systematische Erfassung von Erfahrungen und Erkenntnissen aus der Möglichkeitsdenker-Praxis
  • Konzeptentwicklung: Erarbeitung von Handlungskonzepten und Qualitätsstandards

Forschungsschwerpunkte

Das Forschungsbüro befasst sich unter anderem mit:

  • Transformation von Werkstätten für behinderte Menschen
  • Inklusive Formen bürgerschaftlichen Engagements
  • Partizipation und Selbstvertretung
  • Sozialräumliche Inklusion
  • Professionelle Haltungen in der Behindertenhilfe
  • Überwindung des Helfersyndroms
  • Personenzentrierte Zukunftsplanung
  • Inklusive Hochschuldidaktik

Methodische Ansätze

Das Forschungsbüro arbeitet mit innovativen, inklusiven Forschungsmethoden:

  • Aktionsforschung: Forschung als gemeinsamer Prozess mit den Beforschten
  • Photovoice: Menschen mit Beeinträchtigungen dokumentieren ihre Perspektiven fotografisch
  • Leichte Sprache in der Forschung: Zugängliche Forschungskommunikation
  • Peer-Research: Menschen mit Beeinträchtigungen als Forschende
  • Ethnografische Methoden: Teilnehmende Beobachtung in inklusiven Settings

Organisatorische Trägerschaft und Netzwerke

Lebenshilfe-Organisationen in Nordrhein-Westfalen

Die praktische Umsetzung des Möglichkeitsdenker-Konzepts erfolgt in enger Zusammenarbeit mit verschiedenen Lebenshilfe-Organisationen in Nordrhein-Westfalen:

Lebenshilfe Lüdenscheid

Die Lebenshilfe Lüdenscheid ist eine der tragenden Organisationen, die das Möglichkeitsdenker-Konzept in ihrer Arbeit implementiert hat. Sie setzt innovative Projekte zur Förderung von Selbstbestimmung und gesellschaftlicher Teilhabe um und ist aktiv in der regionalen Vernetzung engagiert.

Weblink:

Lebenshilfe Landesverband NRW

Der Lebenshilfe Landesverband Nordrhein-Westfalen e.V. fungiert als Dachorganisation und fördert die landesweite Verbreitung innovativer Inklusionskonzepte. Er unterstützt die Vernetzung zwischen lokalen Lebenshilfe-Organisationen, wissenschaftlichen Einrichtungen und politischen Akteuren.

Weblink:

Der Landesverband spielt eine wichtige Rolle bei:

  • Fachpolitischer Interessenvertretung
  • Qualitätsentwicklung in der Behindertenhilfe
  • Verbreitung innovativer Konzepte wie der Möglichkeitsdenker-Philosophie
  • Vernetzung von Praxis, Wissenschaft und Politik

Lebenshilfe-Rat NRW

Eine besondere Verbindung besteht zum Lebenshilfe-Rat NRW, dem Selbstvertretungsgremium des Landesverbandes, in dem Menschen mit Beeinträchtigungen ihre Interessen selbst vertreten. Diese Querverbindung unterstreicht den partizipativen Ansatz des Möglichkeitsdenker-Projekts.

Lebenshilfewerk Marburg-Biedenkopf

Das Lebenshilfewerk Marburg-Biedenkopf ist eine weitere wichtige Partnerorganisation mit engen Querverbindungen zum Möglichkeitsdenker-Projekt. Die Organisation in Mittelhessen trägt zur regionalen und überregionalen Vernetzung bei.

Weblink:

Bundesvereinigung Lebenshilfe

Die Bundesvereinigung Lebenshilfe e.V. ist durch die Mitarbeit von Dr. Angelika Magiros eng mit dem Projekt verbunden und trägt zur bundesweiten Verbreitung des Möglichkeitsdenker-Ansatzes bei.

Weblink:

Weitere beteiligte Organisationen

Die Möglichkeitsdenker-Philosophie wird von verschiedenen regionalen und überregionalen Lebenshilfe-Einrichtungen aufgegriffen:

  • Lebenshilfe Siegen und weitere Einrichtungen in der Region Südwestfalen
  • Weitere regionale Lebenshilfe-Verbände in Hessen und anderen Bundesländern
  • Werkstätten für Menschen mit Behinderungen, die transformative Prozesse durchlaufen

Praxisbeispiele und weitere Kooperationen

Netphener Tisch

Ein prominentes Beispiel ist der Netphener Tisch in Netphen (Nordrhein-Westfalen), eine Lebensmittelausgabestelle, bei der Menschen mit Beeinträchtigungen nicht nur Empfängerinnen sind, sondern als freiwillige Helferinnen aktiv mitwirken. Diese Transformation von Nutzer*innen zu Engagierten zeigt exemplarisch den Möglichkeitsdenker-Ansatz und wurde wissenschaftlich durch die Universität Siegen begleitet.

Weitere Hochschulkooperationen

Neben der zentralen Zusammenarbeit mit der Universität Siegen bestehen Kontakte zu:

  • Hochschulen für Soziale Arbeit in Nordrhein-Westfalen
  • Forschungsinstituten im Bereich Disability Studies
  • Internationalen Hochschulnetzwerken zu inklusiver Bildung
  • Österreichischen Partnerorganisationen (insbesondere Lebenshilfe Graz/Steiermark)

Rechtliche und politische Einbettung

Bundesteilhabegesetz (BTHG)

Das 2017 in Kraft getretene Bundesteilhabegesetz bildet einen wichtigen rechtlichen Rahmen für die Möglichkeitsdenker-Praxis. Es stärkt:

  • Selbstbestimmung und Teilhabe
  • Personenzentrierte Leistungserbringung
  • Budget für Arbeit als Alternative zur Werkstatt
  • Gesamtplanung und Teilhabeplanung

Weblink:

Partizipationsgesetze

Auf Landesebene existieren verschiedene Partizipations- und Teilhabegesetze, die die rechtliche Grundlage für erweiterte Mitbestimmungsrechte schaffen.

Kritische Diskurse

Werkstätten-Debatte

Das Möglichkeitsdenker-Konzept ist eng verknüpft mit der kritischen Auseinandersetzung um die Zukunft der Werkstätten für behinderte Menschen (WfbM). Kritiker*innen fordern:

  • Abbau segregativer Sonderstrukturen
  • Übergang zu inklusiven Arbeitsformen auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt
  • Faire Entlohnung statt Werkstattlohn

Helfersyndrom und professionelle Haltung

Das Projekt thematisiert auch kritisch das sogenannte Helfersyndrom in sozialen Berufen und fordert eine reflexive professionelle Haltung, die Abhängigkeiten vermeidet und Selbstbestimmung fördert. Diese Thematik wird sowohl in der Forschung als auch in der Lehre an der Universität Siegen aufgegriffen.

Publikationen und wissenschaftlicher Diskurs

Zum Themenfeld Möglichkeitsdenker und inklusives bürgerschaftliches Engagement existieren verschiedene Veröffentlichungen in:

  • Fachzeitschriften für Soziale Arbeit (z.B. Soziale Arbeit, Teilhabe)
  • Publikationen der Lebenshilfe (Bundes- und Landesverbände)
  • Hochschulschriften und wissenschaftliche Abhandlungen aus der Universität Siegen
  • Dokumentationen des Forschungsbüros
  • Praxisberichte und Handreichungen
  • Blog-Publikationen und Essays (z.B. auf arminherzberger.com)

Internationale Bezüge

Das Konzept steht im Dialog mit internationalen Entwicklungen:

  • Lebenshilfe Österreich (insbesondere Graz/Steiermark) als Ideengeber
  • Independent Living Movement (USA, Skandinavien)
  • Social Role Valorization nach Wolf Wolfensberger
  • Community-based Rehabilitation (WHO-Ansatz)
  • Nothing About Us Without Us – Motto der internationalen Behindertenbewegung
  • Person Centered Planning – Internationale Bewegung der Zukunftsplanung

Ausblick

Die Möglichkeitsdenker-Perspektive gewinnt im Kontext der Inklusions- und Teilhabedebatte zunehmend an Bedeutung. Sie fordert eine grundlegende Neuausrichtung der Behindertenhilfe und stellt die Frage nach der Transformation bestehender Sonderstrukturen. Die wissenschaftliche Begleitung durch die Universität Siegen und die Arbeit des Forschungsbüros tragen dazu bei, diesen Wandel theoretisch zu fundieren und empirisch zu erforschen.

Die Vernetzung zwischen Praxis (Lebenshilfe-Organisationen), Wissenschaft (Universität Siegen, Forschungsbüro) und Politik (Landesverband NRW, Lebenshilfe-Rat NRW, Bundesvereinigung) schafft günstige Voraussetzungen für eine nachhaltige Weiterentwicklung inklusiver Teilhabestrukturen.

Als Graswurzelprojekt bleibt die Initiative dabei ihren Wurzeln treu: Der Wandel entsteht nicht durch Verordnungen von oben, sondern durch das konkrete Engagement und die gelebte Praxis von Menschen, die neue Wege der Teilhabe beschreiten. Die Einbindung mehrerer promovierter Wissenschaftlerinnen mit Beeinträchtigungen sowie weiterer Dozentinnen in eigener Sache zeigt exemplarisch, welche Potenziale durch konsequente Inklusion erschlossen werden können.

Siehe auch

  • Lebenshilfe
  • Inklusion (Soziologie)
  • Selbstbestimmt-Leben-Bewegung
  • UN-Behindertenrechtskonvention
  • Bundesteilhabegesetz
  • Empowerment
  • Sozialraumorientierung
  • Partizipative Forschung
  • Disability Studies
  • Personenzentrierte Zukunftsplanung
  • Graswurzelbewegung

Weblinks

Wissenschaftliche Einrichtungen

Lebenshilfe-Organisationen

Blog und Dokumentation

Politische und fachliche Netzwerke

Einzelnachweise

Dieser Artikel basiert auf Konzepten und Praxiserfahrungen aus der deutschen und österreichischen Behindertenhilfe und Sozialpädagogik, insbesondere der wissenschaftlichen Kooperation zwischen Lebenshilfe-Organisationen und der Universität Siegen.


Hinweis: Dieser Artikel stellt ein Konzept dar, das als Graswurzelprojekt in verschiedenen Kontexten der Lebenshilfe-Arbeit entwickelt und praktiziert wird. Die genaue organisatorische Zuordnung und institutionelle Verankerung kann regional unterschiedlich sein.

HeClki 03.12.25

Leben wir, so leben wir dem Herrn

Predigt zum ersten Advent

Predigttext (Römer 14,8-12):**

Leben wir, so leben wir dem Herrn; sterben wir, so sterben wir dem Herrn. Darum: wir leben oder sterben, so sind wir des Herrn. Denn dazu ist Christus gestorben und wieder lebendig geworden, dass er über Tote und Lebende Herr sei. Du aber, was richtest du deinen Bruder? Oder du, was verachtest du deinen Bruder? Wir werden alle vor den Richterstuhl Gottes gestellt werden. Denn es steht geschrieben: ‚So wahr ich lebe, spricht der Herr, mir sollen sich alle Knie beugen, und alle Zungen sollen Gott bekennen.‘ So wird nun jeder von uns für sich selbst Gott Rechenschaft geben.“



Liebe Schwestern und Brüder,

„Leben wir, so leben wir dem Herrn“ – das klingt fromm, aber was meint Paulus damit eigentlich? Geht es um Gebete und Gottesdienstbesuche? Um christliche Innerlichkeit?

Ich glaube, Paulus meint etwas anderes. Er fragt: Wem gehört dein Leben? Wofür setzt du dich ein? Was ist dir wichtig?

Wenn ich sage „ich lebe dem Herrn“, dann heißt das: Mein Leben gehört nicht mir allein. Ich lebe nicht nur für mich selbst, für meinen Wohlstand, für meine Ruhe. Ich lebe für etwas Größeres – für Gottes Reich, für Gerechtigkeit und Frieden, für die Gemeinschaft mit anderen Menschen.

Das ist keine Last, sondern eine Befreiung. Ich muss mich nicht ständig selbst beweisen. Ich muss nicht besser sein als andere. Ich darf einfach leben – in der Gewissheit, dass Gott mich trägt, im Leben wie im Sterben.

Wir sind alle gleich vor Gott

„Wir werden alle vor den Richterstuhl Gottes gestellt werden.“ Manchmal hören wir das als Drohung. Aber ich denke, Paulus meint es anders.

Er sagt: Vor Gott sind wir alle gleich. Da gibt es keine Unterschiede zwischen Pfarrer und Gemeindeglied, zwischen Kirchenvorstand und Besucher im hinteren Kirchenbank, zwischen denen, die schon immer hier waren, und denen, die neu dazugekommen sind.

Das ist das Herzstück der Reformation: Wir sind alle unmittelbar vor Gott verantwortlich. Luther nannte das „Priestertum aller Gläubigen“. Nicht der Pfarrer steht näher bei Gott als Sie. Nicht die Kirchenleitung hat mehr zu sagen. Wir alle stehen gleich vor Gott.

Das hat Folgen für unsere Gemeinde: Wenn wir alle gleich sind, dann dürfen nicht nur wenige bestimmen, wo es langgeht. Dann müssen wir gemeinsam überlegen, was zu tun ist. Dann ist die Meinung der Reinigungskraft genauso wichtig wie die des Presbyteriumsvorsitzenden.

Hört auf zu richten und zu verachten

„Du aber, was richtest du deinen Bruder? Oder du, was verachtest du deinen Bruder?“

Kennen Sie das? Da kommt jemand nicht mehr so oft in den Gottesdienst, und schon wird getuschelt: „Der hat wohl seinen Glauben verloren.“ Da hat jemand eine andere Meinung zu einer Frage in der Gemeinde, und schon heißt es: „Die versteht das halt nicht.“

Paulus sagt: Hört auf damit! Hört auf zu richten, wer ein „richtiger“ Christ ist und wer nicht. Hört auf zu verachten, wer anders denkt als ihr.

Das geschieht leider auch in unseren Gemeinden. Manche werden nicht ernst genommen, weil sie keine theologische Ausbildung haben. Andere werden überhört, weil sie nicht zu den „Alteingesessenen“ gehören. Wieder andere werden belächelt, weil sie neue Ideen haben.

Aber wer sind wir, dass wir über andere urteilen? Wir stehen alle vor Gott. Und Gott fragt nicht: „Warst du orthodox genug? Hast du die richtigen Lieder gesungen? Hast du oft genug die Bibel gelesen?“ Gott fragt: „Hast du in Liebe gelebt? Hast du für Gerechtigkeit gekämpft? Hast du anderen geholfen?“

Was kann das für uns bedeuten?

„Leben wir, so leben wir dem Herrn“ – was bedeutet das im Alltag?

Ich denke an die Frau, die jeden Sonntag nach dem Gottesdienst beim Kaffee auf die zugeht, die allein am Rand stehen. Sie richtet nicht, sie verachtet nicht – sie lebt dem Herrn, indem sie Gemeinschaft schafft.

Ich denke an den Mann, der im Kirchenvorstand immer wieder fragt: „Was ist eigentlich mit denen, die nicht hier sind? Was brauchen die jungen Familien? Was brauchen die Alleinerziehenden?“ Er lebt dem Herrn, indem er an die denkt, die keine Stimme haben.

Ich denke an die ältere Dame, die sich für den Erhalt der Diakoniestation einsetzt, obwohl sie selbst nicht darauf angewiesen ist. Sie lebt dem Herrn, indem sie für andere einsteht.

Das ist gemeint mit „dem Herrn leben“ – nicht fromme Innerlichkeit, sondern konkretes Handeln für andere.

Keine Hierarchien im Reich Gottes

„Jeder von uns wird für sich selbst Gott Rechenschaft geben.“ Das heißt: Ich kann mich nicht verstecken hinter anderen. Ich kann nicht sagen: „Der Pfarrer hat das so gesagt“ oder „Das haben wir schon immer so gemacht.“

Aber es heißt auch: Ich bin frei. Frei von dem, was andere von mir erwarten. Frei von der Angst, nicht dazuzugehören. Frei, meinem Gewissen zu folgen.

Das war für die Reformatoren zentral: Niemand steht zwischen mir und Gott. Kein Papst, kein Bischof, kein Pfarrer. Ich bin selbst verantwortlich.

Das bedeutet aber auch: Wir brauchen keine kirchlichen Hierarchien, die uns sagen, was wir zu glauben haben. Wir können gemeinsam überlegen, was der Auftrag der Kirche heute ist. Jede Stimme zählt.

Was wird am Ende zählen?

„Alle Knie sollen sich beugen, alle Zungen sollen Gott bekennen“ – das ist die große Perspektive, die Paulus uns gibt. Am Ende wird sich zeigen, was wirklich wichtig war.

Dann wird nicht gefragt: Wie groß war eure Kirche? Wie voll waren eure Gottesdienste? Wie gut war eure Finanzverwaltung?

Dann wird gefragt: Habt ihr euch für die Schwachen eingesetzt? Habt ihr Gerechtigkeit gesucht? Habt ihr Frieden gestiftet? Habt ihr einander angenommen, wie Christus euch angenommen hat?

Das relativiert vieles, worüber wir uns in der Kirche streiten. Die Frage ist nicht: Klassisch oder modern? Orgel oder Band? Liturgisch oder frei? Die Frage ist: Dient es der Liebe? Schafft es Gerechtigkeit? Bringt es das Reich Gottes näher?

Jesus ermutigt uns

Liebe Schwestern und Brüder, dieser Text von Paulus ist keine Drohung, sondern eine Ermutigung.

Er sagt: Ihr seid frei. Frei von der Angst vor menschlichem Urteil. Frei von dem Zwang, es allen recht zu machen. Frei von der Frage, ob ihr „gut genug“ seid.

Aber er sagt auch: Ihr seid verantwortlich. Verantwortlich dafür, wie ihr lebt. Verantwortlich dafür, ob ihr andere richtet oder annehmt. Verantwortlich dafür, ob euer Leben dem Reich Gottes dient.

Das können wir nicht delegieren – nicht an den Pfarrer, nicht an die Kirchenleitung, nicht an die Tradition. Jede und jeder von uns muss selbst entscheiden: Wie lebe ich dem Herrn?

Aber das ist keine Last. Es ist Würde. Gott traut uns zu, verantwortlich zu leben. Gott traut uns zu, für Gerechtigkeit einzustehen. Gott traut uns zu, seine Mitarbeiter zu sein am Reich Gottes.

In diesem Sinne: Leben wir, so leben wir dem Herrn.

Amen.

Die Predigt ist von mir

Mein Freund Claudius KI hat tüchtig dabei geholfen. Danke

30.11.25

Justitia

Ein Plädoyer für den Rechtsstaat

Großer Saal, grell erleuchtet, nüchtern. Ganz hinten, dir zugewandt, Holzbänke mit blauen Polstern. Dann ein schwarzes Absperrband. Es trennt den eigentlichen Verhandlungsraum, der wie vorgeschrieben aufgeteilt ist.


Rechts die Anklage: Staatsanwaltschaft, Nebenkläger, Gutachter, Sachverständige. Links die Bank für den Angeklagten, seinen Rechtsanwalt, einen Dolmetscher bei Bedarf. Dahinter, daneben, ein Polizeibeamter, der den Angeklagten immer im Blick hat.
Justitia hat die Augen verbunden. Mit ihrem linken Arm hält sie eine Balkenwaage. Der rechte Arm trägt ein Schwert. Jeder Arm ist gesenkt.
Justitia blickt vom Wandgemälde stirnseitig, ruhig, sachlich auf das Szenario. Ihr Angesicht zeigt Sachlichkeit. Sie blickt nicht kalt zu uns herab. Nein, eher empathisch. Ihr Mund ist beim genaueren Hinsehen nicht abfällig, nicht arrogant. Weder belehrend noch strafend. Vielmehr liegt darin ein sanftes, zugewandtes Lächeln.
Ich frage: Wer kann ernstlich bezweifeln, dass Deutschland ein Rechtsstaat ist? Sein Wertesystem ist klar erkennbar.

Es sind die humanistischen Werte der Aufklärung: Freiheit, Gleichheit, Solidarität.


Die Rechtsstaatlichkeit zeigt sich im Aufwand. Im großen Aufwand, die Anklage zu bewerten, um ein Urteil zu fällen.
Staatsanwältin, Richterin, zwei Schöffen. Verteidiger. Protokollführerin. Sachverständige, wenn nötig. Dolmetscher, wenn nötig. All diese Menschen versammeln sich, um über das Schicksal eines einzelnen Menschen zu entscheiden.
Stunden, manchmal Tage. Aktenberge. Paragraphen werden geprüft. Präzedenzfälle werden herangezogen. Zeugen werden gehört. Beweise werden gewürdigt.
Das ist Rechtsstaatlichkeit: Die Sorgfalt des Verfahrens. Die Achtung vor dem Einzelnen. Die Bindung an Regeln, die für alle gelten.
Der Angeklagte spricht. Der Verteidiger spricht. Die Staatsanwältin spricht. Jeder kommt zu Wort. Jeder wird gehört. Das Gericht hört zu. Das Gericht fragt nach. Das Gericht prüft.


Die Augen der Justitia sind verbunden – nicht weil sie blind ist, sondern weil sie unparteiisch urteilt. Nicht nach Ansehen der Person. Nicht nach Herkunft. Nicht nach Reichtum oder Armut. Nach dem Recht.
Die Waage in ihrer linken Hand – sie wiegt ab. Schuld und Unschuld. Belastung und Entlastung. Mit Sorgfalt. Mit Geduld.


Das Schwert in ihrer rechten Hand – nicht als Drohung, sondern als Zeichen: Das Recht hat Kraft. Das Recht setzt sich durch. Aber nur nach dem Verfahren. Nur nach der Prüfung. Nur nach dem Abwägen.
Ich sitze als Schöffe. Ich bin kein Jurist. Ich bin Bürger. Ich bringe die Perspektive des Alltags ein. Die Perspektive dessen, der nicht in Paragraphen denkt, sondern in Lebenswirklichkeiten.
Und ich sehe:

Das System funktioniert. Nicht perfekt. Nicht ohne Fehler. Aber es funktioniert. Es nimmt sich Zeit. Es nimmt den Menschen ernst. Es gibt ihm das Recht, gehört zu werden. Es gibt ihm das Recht, verteidigt zu werden. Es gibt ihm das Recht auf ein faires Verfahren.
Das ist keine Selbstverständlichkeit. In vielen Ländern dieser Welt gibt es das nicht. Dort wird verurteilt ohne Verhandlung. Dort gibt es keine Verteidigung. Dort gibt es keine Berufung. Dort gibt es keine Kontrolle.

Freiheit, Gleichheit, Solidarität.

Sie wacht über das Verfahren. Sie erinnert uns daran, wofür dieser Aufwand steht, wofür all die Sorgfalt und all die Geduld:


Hier aber: Der Staat bindet sich selbst an Regeln. Der Staat unterwirft sich dem Recht. Der Staat muss beweisen. Der Staat muss begründen. Der Staat muss das Verfahren einhalten.
Das ist der Rechtsstaat.
Justitia blickt von der Wand. Immer noch empathisch. Immer noch zugewandt.

Vorbei?

Keiner sagt es, wagt es nicht, keiner hat mehr Kraft zu sagen, was da wabert durch den Raum, was jeder weiß und keiner ausspricht:

Unsere Zeit, die ist vorbei. Nichts wird mehr nützen, nichts mehr helfen. Unsere Zeit, die ist vorbei, unverrückbar, obsolet, verschluckt, verplempert, aus der Zeit gefallen, im Abklingbecken der Geschichte wiedergefunden.

Da ist es noch warm, vielleicht noch ein paar Jahre. Kann man kuscheln, bleiben, die alten Zeiten weinen.

Aber jeder spürt allmählich: Es wird kälter, immer kälter.

Die Jungen spielen nicht mehr mit. Die Jungen, ach ja, die Jungen. Die haben ihre eigenen Sorgen, ihre eigene Art, mit der Welt umzugehen.

Was den Alten als Eigennutz erscheint, ist vielleicht nur Selbstschutz in einer Zeit, die keinen mehr trägt.

Liebe Menschen, sagt es doch: Es ist vorbei, vorbei.

Sagt es bitte ehrlich, dass es vorbei ist. Macht euch doch nichts vor,  es nützt ja doch nichts mehr.

Was tun?

Bitte erst mal warten, klagen, trauern, weinen, zur Ruhe kommen, warten müssen können, schauen, blicken, träumen, schlafen, neue Kräfte sammeln.

Dann wird vielleicht die neue Hoffnung keimen, erst ganz klein und zart und grün, dann stärker, größer werdend.

Was da ist, was kommt, das sehen wir dann.


Bitte, bitte nicht daran ziehen.
Die Wurzeln sind doch zart und klein.
Das Ziehen wäre der Hoffnung Tod.


Erst mal warten, träumen, Kräfte sammeln.
Das Neue kommt.
Es kommt, es kam schon immer.
Wie es wirklich werden wird, das weiß noch keiner.

Jeder kann es träumen.

Kirche von unten – braucht Mut

Solidarität statt Hierarchie – Mut zur Kirche von unten

Eine Andacht aus gegebenem Anlass


Im Namen Gottes, der die Niedrigen erhöht,
im Namen Jesu Christi, der sich zu den Ausgestoßenen setzte,
im Namen des Geistes, der weht, wo er will – nicht wo Amtsstuben es verfügen.


Psalm 146 (Auswahl)

Vertraut nicht auf Fürsten, auf Menschen, bei denen es keine Rettung gibt.
Selig, wessen Hilfe der Gott Jakobs ist,
der Recht schafft den Unterdrückten,
der die Gefangenen befreit,
der die Gebeugten aufrichtet.


Text: Markus 10,42-45

Jesus rief sie zu sich und sprach: „Ihr wisst, die als Herrscher gelten, unterdrücken ihre Völker, und die Mächtigen missbrauchen ihre Macht über sie. So aber ist es unter euch nicht; sondern wer groß sein will unter euch, der soll euer Diener sein; und wer unter euch der Erste sein will, der soll aller Knecht sein. Denn auch der Menschensohn ist nicht gekommen, dass er sich dienen lasse, sondern dass er diene.“


Impuls

Die Kirche hat ein Hierarchieproblem. Und damit ein Glaubwürdigkeitsproblem.

Da sind die Ehrenamtlichen – sie leiten Gruppen, besuchen Kranke, organisieren Gemeindefeste, halten den Laden am Laufen. Sie tun dies aus Überzeugung, aus Liebe, aus Glauben. Und was erleben sie? Dass wichtige Entscheidungen über ihre Köpfe hinweg getroffen werden. Dass hauptamtliche Strukturen sich verselbständigen. Dass Gremien tagen, während die Basis ausbleibt. Dass ihre Stimme zählt – aber nur bis zur nächsten Dekanatsebene.

Das Leiden ist real: Burnout im Ehrenamt, Frustration über fehlende Mitsprache, Enttäuschung darüber, dass die Kirche, die von Nächstenliebe spricht, ihre eigenen Leute verheizt.

Jesus war radikal in seiner Absage an Hierarchie. „So ist es unter euch nicht“ – keine Floskeln, sondern Programm. Die ersten Gemeinden waren Versuche solidarischer Gemeinschaft. Keine Bischofssitze, sondern Hauskreise. Keine Karriereleitern, sondern Fußwaschung.

Wo ist dieser Geist geblieben?

Mut zur Solidarität heißt konkret:

  • Macht teilen, nicht verteidigen. Entscheidungsstrukturen demokratisieren.
  • Ehrenamt nicht romantisieren, sondern seine Überlastung ernst nehmen und Strukturen entlasten.
  • Hierarchien benennen und abbauen – in Sprache, Haltung, Organisation.
  • Von unten denken: Was brauchen Menschen wirklich? Nicht: Was erhält die Institution?

Die Kirche von unten ist keine Utopie – sie geschieht überall dort, wo Menschen aufhören zu warten, dass „die da oben“ endlich handeln. Wo Gemeinden solidarisch wirtschaften. Wo Ehrenamtliche als gleichberechtigte Partner*innen behandelt werden. Wo Jesus‘ Maßstab gilt: nicht Macht über andere, sondern Dienst miteinander.


Gebet

Gott der Befreiung,
wir klagen dir das Leid derer,
die sich in deiner Kirche aufreiben.
Die geben und geben – und doch nicht gehört werden.

Stärke unseren Mut zur Solidarität.
Lass uns nicht länger schweigen,
wo Hierarchien Menschen klein machen.

Gib uns Kraft, Kirche neu zu denken:
von unten, gemeinsam, solidarisch.

Im Namen Jesu, der die Mächtigen vom Thron stößt
und die Niedrigen erhöht.
Amen.


Segen

Geht geschwisterlich miteinander um.
Widersteht den Strukturen der Herrschaft.
Seid solidarisch – in der Kirche und darüber hinaus.

So segne euch der befreiende Gott. Amen.

05.11.25

HeCl

Onkel Theodor Rip

Lieber Onkel Theodor

Lieber Onkel Theodor, sprichst Latein und trinkst gern Wein.

Lieber Onkel Theodor, gedenke Deines Namens – nimm Dir dies Geschenk.

Lieber Onkel Theodor, warst so lange fort – kehr doch heim, wir harren Dein.

Lieber Onkel Theodor, Du bist klug – lass fahren Streit und Eitelkeit, ich bin bereit.

Lieber Onkel Theodor, wir brauchen Dich – sprich zu uns mit Witz und Weisheit, das lieben wir an Dir.

Lieber Onkel Theodor, lass uns von alten Zeiten reden, lass uns unsre Wurzeln finden.

Lieber Onkel Theodor, lass uns spotten, lästern, scherzen – doch in Ehren halten wir den Menschenschlag, dem wir entsprungen sind.

Lieber Onkel Theodor, sprichst Latein und trinkst gern Wein – lass uns mit Wein zusammen fröhlich sein.

*Die Bedeutung des Namens Theodor („Geschenk Gottes“) leitet sich von den beiden Wörtern theos „Gott“ und dōron „Geschenk“ ab.*

Kein Stuhl mehr für Dich


Eine Geschichte aus Mittelhessen

Es war wieder einer dieser trüben Novemberabende, und wer da meint, der November sei nur eine Zeit des Nebels und der Schwermut, der kennt nicht die stillen Gewalten, die in solchen Tagen am Werk sind, wenn Gott den Menschen zur Besinnung ruft und sie doch, wie so oft, nicht hören wollen oder können.

Just zwei Tage nach Buß und Bettag war es geschehen, dass es plötzlich kälter geworden war. Schon an jenem Feiertag selbst, nach der üblichen erweiterten Bibelstunde – die Tersteegen-Konferenz nannte man sie, weil ein Prediger aus Herborn erwartet wurde, der das Evangelium rein und klar auszulegen verstand, wie’s leider nicht alle können oder wollen – hatte es begonnen zu schneien. Erst nur wenig, kleine Eiskristalle, dann in dicken nassen Flocken, die kaum gefallen, dahin schmolzen.

„Z äss Schnieloft i dä Loft“, pflegten die alten Bauersleute dann zu sagen.
Es riecht nach Frost und Schnee in der Luft. Und sie hatten recht, wie die Alten meistens recht haben, wenn sie von Wetter und Zeiten reden, denn sie haben’s erlebt und erfahren, was den Jungen noch bevorsteht.

Zu jener Zeit kam es durchaus vor, dass Väterchen Frost – wie sie ihn nannten, als wär’s ein guter Bekannter – zu Bußtag Einzug hielt und sich erst gegen Ende Februar wieder verabschiedete. Für die Kinder und Jugendlichen eine Freude, gewiss, denn was wissen die von den Beschwerden des Alters! Die Alten aber waren weniger begeistert, war ihre Bewegungsfreiheit doch recht eingeschränkt. Zu Fuß über die frostigen Straßen zum Nachbarn, zu Freunden, und abends zur Spinnstube zu pilgern wurde beschwerlicher. Ansonsten aber war man’s gewohnt, genoss auf seine Weise auch diese ruhige Zeit, in der die Natur ruht und der Mensch Zeit hätte zur Einkehr – hätte, sag ich, denn das Haben und das Tun sind zweierlei Ding.

Autos gab es damals nur wenige im Dorf, und der kleine Bulldog für die Landwirtschaft war eh eingemottet und wartete gemeinsam mit seinen Besitzern auf den Frühling. Das Bauernhaus, von dem ich berichten will, lag an der Chaussee, die den Ort ziemlich in der Mitte teilte. Wohnen, Arbeiten, Mensch und Vieh unter einem Dach – zu der Zeit ganz normal und auch recht so, denn wo der Bauer nicht bei seinem Vieh wohnt, da wohnt er auch nicht recht bei sich selbst.

Nun kamen an jenem Abend zwei Männer die Straße herauf. Der eine im mittleren Alter, der andere schon älter, beide ältlich, bieder, unauffällig – so wie Leute aussehen, die ihr Leben lang ihre Pflicht getan haben und dabei vergessen haben, dass Pflicht und Liebe manchmal zweierlei sind. Die Herren waren als Gemeindeälteste in wichtiger Funktion unterwegs, und wer da meint, es sei eine leichte Sache, über anderer Leute Seelenheil zu wachen, der irrt gewaltig.

„Gi du öschd“, sagte der ältere Herr mit der Halbglatze und ließ dem Gescheitelten den Vortritt.
Geh Du zuerst. Das war Höflichkeit, gewiss, aber vielleicht auch ein wenig Feigheit, denn was sie zu tun hatten, war keine angenehme Sache.

Der Gescheitelte öffnete die Haustüre. Eine Klingel gab es zu dieser Zeit noch nicht – man trat einfach ein, wie’s unter Nachbarn üblich war.

„Z äss imed komme“, stellte der Vater fest, ein älterer Mann, schon ein wenig kränklich, wie’s im Alter kommt, wenn die Last der Jahre schwer wird.
Es ist jemand gekommen.
„Wer wöd da ez noch komme? Im döre Zeid?“
Wer würde da jetzt noch kommen? In dieser Zeit?

Seine Frau, eine Frau jenseits der Vierzig mit gütigem Gesicht und schon ein wenig ergrautem dichtem Haar, strahlte Güte aus, Zuversicht, Verständnis. So sind manche Frauen, die viel erduldet und viel vergeben haben. Sie schwieg, wie’s ihre Art war, aber ihre Augen sahen, was kommen würde.

Die Herren traten ein. Ein wenig peinlich berührt kamen sie gleich zur Sache, denn wer unangenehme Dinge zu sagen hat, der sagt sie am besten kurz.

„Mer wolle de Bicher oblange.“
Wir wollen die Bücher abholen.

*“Welche Bicher?“* fragte der Ehemann, obwohl er’s wohl ahnte.
Welche Bücher?

„Ei de Gesongbicher ausm Vereinshaus.“
Nun, die Gesangbücher aus dem Vereinshaus.

„Worüm da?“
Weshalb denn?

Der Gescheitelte räusperte sich. „Du bäsd seid öwer em halwe Johr ned i der Körche gewesd. Onn id da Biwlstonn sch bole z ganze Johr ned.“
Du bist seit über einem halben Jahr nicht mehr in der Kirche gewesen. Und in der Bibelstunde warst du fast das ganze Jahr nicht.

Der Vater versuchte sich zu rechtfertigen, wie’s Menschen tun, wenn sie im Unrecht sind – oder meinen, im Recht zu sein: „Mer ho doch e Firma, onn die Landwirtschaft mächd sich och ned vom elä.“
Wir haben doch eine Firma, und die Landwirtschaft macht sich auch nicht von alleine.

Aber einer der Ältesten entgegnete streng: „Dos spield kä Roll ned. Anner Leire ho och viel zu du, onn säi trotzdem jeden Donetschdog im Vereinshaus.“
Das spielt keine Rolle. Andere Leute haben auch viel zu tun, und sind trotzdem jeden Donnerstag im Vereinshaus.

Und dann kam der Satz, der wie ein Richtspruch im Raum stand: „Es äss sowieso kein Stuhl fer dich do.“
Es ist sowieso kein Stuhl für dich da.

Kein Stuhl mehr. Was heißt das? Es heißt: Du gehörst nicht mehr dazu. Du bist ausgeschlossen. Die Gemeinschaft, in die du hineingeboren wurdest, will dich nicht mehr. Das ist hart, sehr hart, und wer’s nicht erlebt hat, der weiß nicht, wie schwer es wiegt.

Der Vater schwieg. Was hätte er auch sagen sollen? Er ging zum Küchenschrank, wo obenauf, neben anderen Papieren, zwei Gesangbücher lagen. Er händigte sie dem korrekt Gescheitelten aus und bemerkte nur kurz: „Dä.“
Da.

Die drei Ältesten nahmen die Bücher schweigend in Empfang. „Da genacht. Mei bere fer dich“, sagten sie und gingen.
Gute Nacht. Möge Wir betenfürDich – das sagten sie, aber ob Gott wirklich mit jemandem ist, wenn die Menschen ihn ausschließen, das ist eine andere Frage.

Die Mutter hatte die ganze Zeit geschwiegen, wie’s Frauen oft tun, wenn Männer ihre starren Regeln durchsetzen. Aber als die Haustür ins Schloss fiel, sagte sie betrübt: „Vadder äich ho dersch schoo immer gesod. Du gesd viel ze wing i de Stonn.“
Vater, ich habe es dir doch schon immer gesagt. Du gehst viel zu wenig zu den Stunden.

Der Vater, müde und verletzt: *“Lässt mich domed de Owed i rih.“*
Lass mich doch diesen Abend in Ruhe.


Nun könnte ich’s dabei bewenden lassen und den Leser mit seinen Gedanken allein lassen. Aber es gehört zur Wahrheit, dass man auch sagt, was aus den Menschen wurde, von denen man erzählt.

Der Winter kam, wie vorausgesagt, und legte sich schwer übers Land. Der Vater arbeitete weiter, wie er’s immer getan hatte – in der Firma, auf dem Hof, bei den Tieren. Die Arbeit wartete nicht, ob einer zur Kirche ging oder nicht. Man grüßte ihn noch auf der Straße, kaufte bei ihm, redete übers Wetter. Aber zu den Donnerstagabenden im Vereinshaus kam keine Einladung mehr.

Die Mutter ging weiterhin zur Bibelstunde, allein nun. Sie saß auf ihrem Platz, sang aus ihrem Gesangbuch. Die anderen Frauen nickten ihr zu, redeten mit ihr. Aber es war nicht mehr wie früher. Eine unsichtbare Wand war da.

Und der Stuhl im Vereinshaus? Der stand nicht mehr da. Man hatte ihn weggeräumt, Platz gemacht für andere. So war’s Brauch: Wer nicht kam, dessen Platz wurde vergeben.

Der Vater nahm’s hin. Er war nicht der erste, dem dies geschah, und würde nicht der letzte sein. Die Ordnung der Gemeinde war streng. Aber ob sie auch recht war, das steht auf einem anderen Blatt, und darüber mag jeder denken, wie er will.