Eine Erzählung aus dem Klippdachsland
Zweite Fassung
I.
Für ihn begannen die Raunächte am zweiundzwanzigsten Dezember, jenem Tage also, da Großmutter Friedelinde – eine Matrone von jener resoluten und dabei doch liebenswürdigen Art, wie sie das Klippdachsland in Fülle hervorbringt – ihren Geburtstag beging, ein Wiegenfest, das, der althergebrachten Sitte gemäß, in einem Umfang gefeiert wurde, der heutigen, eilfertigeren Generationen wohl befremdlich, ja geradezu verschwenderisch erscheinen müsste.
Die Verwandtschaft erschien vollzählig – was bei dieser weitverzweigten Sippe keine geringe Anzahl bedeutete –, dazu nahe Freundinnen und Freunde, wobei das Wort „geladen“ eigentlich fehl am Platze war, denn im Klippdachsland bedurfte es keiner förmlichen Einladung zu dergleichen Festivitäten: ein jeder wusste um diese Feier und kam wie selbstverständlich vorbei, die einen zur Nachmittagskaffeestunde, andere wiederum zum Abendessen, je nach Neigung, Gelegenheit und dem Grade der verwandtschaftlichen Nähe.
Er selbst – jener Knabe, dessen Perspektive uns durch diese Geschichte geleiten wird – war froh, überaus froh sogar, der Schule für drei Wochen entronnen zu sein, jener Institution, die ihm, wie allen Kindern seiner Jahre, als ein notwendiges, aber keineswegs angenehmes Übel erschien.
Die Feier am Abend nahm nun jenen geselligen, lauten und verqualmten Charakter an, der solchen ländlichen Zusammenkünften eigentümlich ist. Wilhelm Weiß – Inhaber eines alteingesessenen Unternehmens, dessen genaue Natur im Dunkeln blieb, was jedoch seiner gesellschaftlichen Position keinen Abbruch tat – saß qualmend am Kopf der Geburtstagstafel und beklagte, in einem Ton zwischen Jammer und routinierter Klage, die sinkende Nachfrage, wobei er sich, wie alljährlich, kurz vor der Insolvenz wähnte.
Die übrigen Gäste waren davon gänzlich unbeeindruckt, wusste doch ein jeder um dieses alljährliche Lamento, das sich mit der Regelmäßigkeit der Jahreszeiten wiederholte und ebenso wenig Substanz besaß wie eine Wettervorhersage im Frühling. Zur Insolvenz kam es nie – eher im Gegenteil, wie die Wohlgenährten unter den Eingeweihten zu berichten wussten.
Ein pensionierter Bahnbeamter in Begleitung seiner zweiten Frau – die erste war unter Umständen verschieden, über die man vornehm schwieg – erkundigte sich bei Onkel Theodor, ob dieser nun in die nächsthöhere Gehaltsstufe aufgestiegen sei. „Theo, Theo, Theo! A11, A12, A13?“ Und fügte in jenem dialektalen Tonfall hinzu, der dem Hochdeutschen so fern steht wie der Mond der Erde: „Bäsd doch Schuleer, die wönn doch gudd bezoold onn hoo die halwe Zeid Feerie.“
Theo, ein Mann von jener stoischen Gelassenheit, wie sie Gymnasiallehrern nach jahrzehntelanger Übung eigen wird, nahm es hin. Er hörte zu, nickte, machte die eine oder andere launige Bemerkung und rauchte dabei seine Reval ohne Filter – jene Zigarettenmarke, die in den siebziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts einen gewissen intellektuellen Anspruch zu verkörpern schien.
Im Übrigen war er noch einer wichtigen Aufgabe gewärtig: der Beaufsichtigung des Gemeindepfarrers.
II.
Hoobs Henner – so wurde jener Mann genannt, dessen bürgerlicher Name längst hinter diesem Beinamen verschwunden war – erwies sich als leidenschaftlicher Zigarillo-Raucher der Marke „de Zetjes“. Entsprechend war seine Stimme rauchig, laut und durch Räuspern und Husten unterbrochen, wobei er dennoch auf seine raue Art freundlich und humorvoll wirkte, eine jener Widersprüchlichkeiten, die das menschliche Wesen so reich und unerforschlich machen.
Die besondere Aufgabe für Onkel Theodor bestand nun darin – und hier offenbarte sich die feine gesellschaftliche Choreographie solcher Feiern –, den Gemeindepfarrer, nachdem dieser gratulierend die Segenswünsche der Kirchengemeinde überbracht hatte, mit angemessener Konversation zu versorgen. Er tat dies nur äußerst ungern, wohl um seiner Mutter Friedelinde einen Gefallen zu tun, jener Mutter, deren Wünsche Gesetzeskraft besaßen, auch wenn sie nie als Befehle formuliert wurden.
Der Geistliche blieb zum Abendessen, delektierte sich reichlich – und das Wort „reichlich“ ist hier keine rhetorische Übertreibung – an Kartoffelsalat, Nudelsalat, heißer Fleischwurst und deftigen Bratwürsten. Dann ging er bald wieder, verabschiedete sich kurz, satt und zufrieden in der Gewissheit, wieder einmal etwas Gutes für seine Schäfchen getan zu haben – wobei unklar blieb, ob dieses Gute in den Segenswünschen oder in der Verminderung der Speisevorräte bestand.
III.
Die Familienfeier fand selbstredend in der guten Stube statt, jenem sakrosankten Raum, der das ganze Jahr über unbeheizt und somit Ende Dezember von einer Kälte erfüllt war, die an arktische Regionen gemahnte.
Schon am frühen Vormittag war Opa Gregorius beauftragt worden, den Ölofen anzuzünden – und hier beginnt eine Geschichte in der Geschichte, ein technisches Drama von jener Tragweite, wie sie nur häusliche Katastrophen entwickeln können.
Es war ein großer Ofen, ein Doppelbrenner: zwei Öfen gekoppelt, zwei Brennkammern, ein großer Öltank, dies alles mit braunem Emailblech verkleidet, was ihm ein gewisses technisches Pathos verlieh, das freilich in keinem Verhältnis zu seiner tatsächlichen Zuverlässigkeit stand.
Opa Gregorius machte sich ans Werk. Er begab sich mit einer Heizölkanne in die Scheune, wo sich ein Öltank aus Stahlblech befand – orange mit Bleimennige gestrichen zwecks Korrosionsschutz, wie die Fachleute zu sagen pflegen –, ganz hinten rechts in der Ecke. Der Tank war rechteckig, stand auf vier Füßen, die ihn etwa achtzig Zentimeter vom Boden erhoben, und verfügte ganz unten in der Mitte des Tankbodens über einen Kipphahn, goldglänzend aus Messing, dessen Kipphebel rot lackiert war, um zu verdeutlichen, dass man dort drücken musste, um Heizöl zu zapfen.
Dieser Tank war und blieb ein stetiges Ärgernis. Man konnte, selbst beim Waltenlassen größter Vorsicht, nicht verhindern, dass der eine oder andere Tropfen nicht in der Kanne landete, sondern seinen unheilvollen Weg auf der Innenseite der Kanne suchte und sogleich jenen typischen Heizölgeruch verbreitete, der sich in Kleidung, Haut und Erinnerung festsetzte mit der Beharrlichkeit eines ungebetenen Gastes.
Dieser „Heizölduft“ begleitete ihn während seiner gesamten Kindheit – ein olfaktorischer Zeitzeuge, ein Tribut an die Moderne, als Holz und Kohle mit ihrer wärmenden Kraft allmählich dem Heizöl weichen mussten, jenem Produkt des technischen Fortschritts, der so viel versprach und doch so eigentümlich roch.
IV.
Das Entzünden dieser Ölöfen war eine Kunst für sich, eine Fertigkeit, die Geduld, Erfahrung und ein gewisses Maß an Risikobereitschaft erforderte. Opa Gregorius war in der Regel für diese verantwortungsvolle Aufgabe zuständig – ein stiller, in sich ruhender Mann, der die Hektik der Welt mit jener Gelassenheit betrachtete, die entweder aus tiefer Weisheit oder aus jahrzehntelanger Resignation erwächst.
Ein Streichholz, ummantelt von einem Streifen roten Paraffinpapiers, musste angezündet werden. Brannte es, galt es, das brennende Zündholz alsbald in den schwarzen Schlund des Brenners zu werfen – eine Handlung, die an heidnische Opferrituale gemahnte. Mit ein wenig Glück landete das Streichholz auf dem Boden des Schlundes, hoffend, dass es dort eine kleine Pfütze Heizöl vorfand, um es zu entzünden.
Das gelang beim ersten Versuch höchst selten. Opa Gregorius nahm sich Zeit für diese Prozedur, die beim dritten Anlauf zu gelingen pflegte. Vorher allerdings musste er den Regler des Ofens auf „Anzünden“ stellen – eine Bezeichnung, die mehr verhieß, als sie hielt.
Wartete man zu lange, lief zu viel Öl in den Schlund. Hatte sich da keine Pfütze, sondern ein kleiner See gebildet, und zündete man dann, drohte ein Unglück von biblischen Ausmaßen. Das Öl begann zu brennen, der Ofen wurde warm und wärmer, ein wahres Höllenfeuer entstand – und hier offenbarte sich die Ambivalenz des technischen Fortschritts in seiner ganzen Dramatik.
Sogleich war Gefahr im Verzug. Der Ofen begann zu grummeln und zu rumpeln, Laute von sich gebend, die an ein gequältes Tier erinnerten. Kam es nun noch heftiger, explodierte das Öl-Gemisch mit einem lauten Rumms, der schwere Stahldeckel flog in die Höhe, und ein stinkendes Gemisch aus Ruß und Öldunst schoss heraus – ein Chaos, das die Tapete über dem Ofen schwärzte und einen Gestank hinterließ, der noch tagelang zu riechen war.
Noch schlimmer konnte es kommen, wenn das Höllenfeuer derart wütete, dass sich das Ofenrohr rot verfärbte und zu glühen begann. Zimmerbrändgefahr lag in der Luft – jene existenzielle Bedrohung, die in Zeiten vor der Feuerversicherung ganze Existenzen vernichten konnte.
Beruhigte sich der Ofen nicht, blieb eigentlich nur noch eines: Die Feuerwehr musste anrücken, was eine Demütigung darstellte, die man im Klippdachsland nach Möglichkeit vermied.
Oma Friedelinde stand seit jeher mit dem Ölofen in der guten Stube auf Kriegsfuß und pflegte dann zu sagen: „Vadder, gug doch nomoo i der Wohnstowwe. S wööd onn wödd ned woorm. Jedes Joohr dosselwe. Der oole Trampelbock. Äich pagge mern noch onn schmäisen fädd.“
Der „alte Trampelbock“ – diese dialektale Bezeichnung für einen Gegenstand, der nur träge funktioniert, nachlässig hergestellt ist und zum Gebrauch nicht mehr viel taugt – umschrieb die Beziehung zwischen Mensch und Technik in ihrer ganzen Ambivalenz.
V.
Sehr ähnlich verhielt es sich mit den Stühlen am großen Tisch im Wohnzimmer. Auch diese wurden nur bei Familienfeiern benutzt, standen ansonsten ordentlich aufgereiht am Wohnzimmertisch und harrten geduldig ihrer eigentlichen Funktion – stumme Zeugen einer Epoche, die zwischen Funktionalität und Repräsentation schwankte.
Der Stil dieser Sitzmöbel war eindeutig: Art Déco. Klare horizontale und vertikale Linienführung, wobei die Form der Funktion eines Stuhles folgte, nämlich dem Sitzen – eine Philosophie, die in ihrer puristischen Strenge an die Bauhaus-Bewegung gemahnte, freilich ohne deren revolutionären Impetus.
Oma Friedelinde war vom Sitzkomfort und der Bequemlichkeit dieser Sitzmöbel keinesfalls überzeugt. „Die oole Kweelhelzer“, pflegte sie zu sagen, „äss ned droff ze sedez“ – diese alten Quälhölzer, auf denen man sehr schlecht sitzen könne.
Oma und Opa hatten Ende der zwanziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts geheiratet, in jener Zeit also, da die Weltwirtschaftskrise ihre Schatten vorauswarf und niemand ahnte, welche Katastrophen das kommende Jahrzehnt bereithalten würde. Omas Aussteuer musste noch mit Mobiliar ergänzt werden, daher die vier Stühle aus massivem Buchenholz, mit dem Malerpinsel gemasert – wie damals üblich – und anschließend fast schwarz lasiert, was ihnen ein gewisses Pathos verlieh, das freilich durch ihre Unbequemlichkeit konterkariert wurde.
VI.
So gegen halb zehn am Abend, als die Feier in vollem Gange war und der Zigarrenrauch sich derart verdichtet hatte, dass die Konturen der Anwesenden zu verschwimmen begannen, ertönte plötzlich draußen vom Hof ein kräftiges „Jeep“ – nicht etwa das Motorengeräusch des gleichnamigen Fahrzeugs, sondern ein menschlicher Ruf, der in seiner Schlichtheit mehr Bedeutung trug als ganze Sätze.
Alle horchten auf, wunderten sich aber nicht. „Doss aß dä Emmerich!“, wurde festgestellt, und auch er, der Knabe, war nicht verwundert, hatte er doch schon darauf gewartet, dass sich sein Freund bemerkbar machte – jener Freund, der so viele Jahre älter war als er, dass diese Freundschaft nach allen gesellschaftlichen Konventionen hätte befremdlich wirken müssen, was sie jedoch keineswegs tat.
Er sprang auf, ging behände zum Vorraum des Kuhstalls, öffnete den oberen Teil der Stalltür und rief: „Ich komme grood!“ – jene dialektale Verkürzung, die „Einen Augenblick, ich bin gleich so weit“ bedeutete.
„Läss dä Zeit“, sprach Emmerich und malte im frisch gefallenen Schnee einen Kreis – eine Handlung von jener rätselhaften Bedeutsamkeit, wie sie Erwachsene manchmal vollziehen, ohne sie zu erklären. Sein bester Freund Martinus – Requiescat in Pace, wie der Erzähler mit wehmütiger Reverenz hinzufügt – war selbstredend auch dabei.
Er zog den gefütterten Parka über, auf dessen Brust ein blauer Aufnäher prangte, auf dem ein stilisierter Weißstorch und das Kürzel DBV – Deutscher Bund für Vogelschutz – gestickt waren, jene Organisation, die schon damals, in den siebziger Jahren, erkannt hatte, was heute offenkundig ist: dass die Natur des Schutzes bedarf. Den Rollkragenpullover hatte er bereits an, nun zog er den Reißverschluss bis oben hin zu. Die Rodelmütze nach Art jener Jahre wurde auf das Haupt gesetzt.
Emmerich war gekleidet wie immer, nur der kalten Witterung angemessen: graue Knickerbockerhosen aus dickem Drillichstoff, dunkler Rollkragenpullover, ein fast schwarzer Wollmantel. Auf dem Haupt eine graue Pudelmütze, an den Händen Wollhandschuhe, in der Hand der unvermeidliche Spazierstock – mundartlich „Kreggestägge“ genannt –, jenes Utensil, das älteren Herren eine gewisse Würde und Autorität verleiht.
Los ging es.
VII.
Inzwischen hatte es aufgehört zu schneien. Der Himmel klarte auf, Sterne begannen zu funkeln, das blasse Band der Milchstraße zog sich über den klaren Himmel – jene kosmische Straße, die den Menschen seit jeher mit Ehrfurcht und Demut erfüllt. Ein Halbmond, gerade aufgegangen, verbreitete ein weißes, zurückhaltendes Licht, in dem Schneekristalle glitzerten wie Diamanten der Natur.
Ihr Ziel war der „Palm Weg“, so bezeichnet, weil er mitten durch eine Fichtenschonung verlief. Links und rechts entlang des Weges breiteten sich Fichtenzweige aus, ähnlich wie Palmwedel, und verbreiteten einen betörenden Duft nach Wald, Fichtennadelharz und Holz – jenen Duft, der in seiner Ursprünglichkeit die Seele berührt.
In dieser klaren, kalten Winternacht war dies ein wahrhaft magischer Ort, eine gute Gelegenheit zu gelassenem Denken, zum Träumen und zum Phantasieren – jene Tätigkeiten, die in unserer hektischen Zeit so rar geworden sind.
Emmerich erzählte von seinen Erlebnissen im Kriege, und Martinus und er lauschten aufmerksam. Es war immer wieder interessant, ihm zuzuhören, erzählte er doch anschaulich, voller persönlicher Eindrücke aus jener schrecklichen Zeit, oft anekdotisch, launig und fantasiebegabt.
Freilich – und hier fügt der Erzähler eine Reflexion ein, die dem reifen Verständnis späterer Jahre entspringt – verschwieg er, wie die meisten Menschen jener Generation, die Schrecken, die Verbrechen, die persönliche Not, die erlebten Traumata, die nie verarbeitet werden konnten, die Verkrüppelung der Seelen bei Opfern und Tätern. Not und Schuld quälten noch immer, auch wenn darüber Schweigen herrschte – jenes beredte Schweigen, das mehr aussagt als tausend Worte.
VIII.
Zielstrebig gingen sie voran. Ganz am Ende dieses verwunschenen Palmweges bemerkte Emmerich lapidar: „Hald er, Jonnge, meer säi doo“ – haltet ein, meine jungen Freunde, wir haben unser Ziel erreicht.
Sie verließen den Weg, der tiefe Radspuren zeigte: Spuren vom Traktor des Jagdaufsehers namens Eduscho – ob dies sein Taufname oder ein Spitzname war, der auf seinen Kaffeekonsum anspielte, blieb im Dunkeln –, der eilfertig Winterfutter für das Reh- und Rotwild in dafür vorgesehene kleine Hütten verbrachte, die mit Heuraufen versehen waren, um den Hunger des jagdbaren Wildes zu stillen.
Aber auch die Radspuren vom Jeep des Jagdherrn waren zu sehen, jenes Mannes, der auf die Pirsch ging, oft begleitet von Jagdgästen, die vor allem auf Trophäen aus waren – eine mit Verlaub zweifelhafte Form der Waidmannschaft, bei der auf Hochständen und Hochsitzen frierend Ansitze vollführt wurden, mit Jagdflinten bewaffnet.
Die intensive Winterfütterung des Wildes führte zwangsläufig zu einer deutlichen Steigerung desselben, mit der Folge, dass Verbissschäden am jungen, nachwachsenden Baumbestand überhandnahmen. Man musste ständig einzäunen und unbegrenzt nachpflanzen, überwiegend mit Fichtenbäumchen, eng bepflanzt – wollte man doch möglichst bald ausgewachsenes Fichtenholz ernten und daraus Erträge erwirtschaften.
Wie fasste der Revierförster Roderich Brei – ein Name, der Programm zu sein schien – beim Feierabendbier in der Kneipe des klugen Wirtes Jakob Rip diese Art von Waldwirtschaft zusammen? „Ich bin ein Wirtschaftsmann. Der Wald muss Geld bringen.“
Die Folgen dieser katastrophalen, auf rein wirtschaftliche Gesichtspunkte beruhenden Waldwirtschaft der sechziger bis siebziger Jahre sind nun – im neuen Jahrhundert – für jeden, der sehenden Auges durch Wald und Flur des Klippdachslandes wandelt, sichtbar. Die in jener Zeit massenhaft gepflanzten Fichtenmonokulturen sind Zeugnisse des fortschreitenden Klimawandels, erschreckende Mahnmale menschlicher Kurzsichtigkeit.
Auch der Palm Weg, jener verwunschene Pfad mitten durch einen dichten Fichtenforst, fiel dem globalen Klimawandel zum Opfer. Baumleichen, kahl und vertrocknet, die meisten bereits abgesägt und abtransportiert – was übrig blieb, bot einen traurigen Anblick: ein kahler, vertrockneter Berghang, leblos, im Sommer schutzlos der brennenden Sonne ausgesetzt.
Doch dann – und hier zeigt sich die erstaunliche Resilienz der Natur – kam schon nach einem Jahr Hoffnung auf. Ganz zart keimten kleine, hellgrüne Pflänzchen, ein neuer grüner Hoffnungsschimmer entstand, erst verhalten, im zweiten Jahr schon deutlich mutiger. Was dort keimte, war das, was im Klippdachsland schon vor der künstlichen Fichteninvasion heimisch gewesen war: ein Niederwald aus Birken, Ginster, Ebereschen, kleinen Buchensämlingen, kleinen Eichen, Brombeere, Himbeere, Haselnuss, Esche, Erle und vielen anderen Pioniergewächsen, die schon nach einigen Jahren einen robusten Niederwald bildeten – artenreich für Flora und Fauna und wunderschön anzuschauen.
IX.
Martinus – in weißer Voraussicht, wie immer – hatte einen grauen Leinenbeutel dabei, darin ein kleines Beil: grüne Klinge, hölzerner Schaft, handlich und leicht. Martinus verfügte schon zu jener Zeit über eine beachtliche Anzahl von Handwerkszeugen, ein Erbe und eine Gabe seines Vaters.
Sein Vater – Requiescat in Pace – war ein ruhiger, besonnener Mann, der stets das Positive im Leben hervorhob, eine Haltung, die in jenen Jahren der Entbehrung und des Wiederaufbaus keine Selbstverständlichkeit war. Er war Nebenerwerbsbauer, Gemeindediener und nebenberuflich Hausschlachter – ein Mann also, der viele Rollen zu spielen verstand. Er fungierte auch als verantwortungsvoller Vorsteher der Nebenzweigstelle der örtlichen Sparkasse und war Jahre zuvor Gemeinderechner gewesen.
Dieses Amt hatte er von seinem Vater übernommen, der sich ebenso wie sein Sohn als begnadeter Kopfrechner erwies – eine Fähigkeit, die in Zeiten vor dem Taschenrechner Gold wert war. So besaß sein Vater neben Schaufel und Kreuzhacke auch eine Bügelsäge mit geschärfter „Wolfszahnung“ des Sägeblattes. Martinus durfte sich dieses Handwerkszeuges bedienen, wusste sein Vater doch um die Umsichtigkeit seines Sohnes im Gebrauch seiner Werkzeuge.
Am Ende des winterlichen Palmweges befand sich rechts eine Fichtenschonung. „Mer säi doo, eer Jonnge“, bemerkte Emmerich beifällig – wir sind am Ziel angekommen, meine lieben jungen Freunde.
Glitzernder Pulverschnee reichte ihnen nun nahezu bis an die Stiefelschäfte. Trotz des Halbmondes – letzte Wölkchen waren vorbeigezogen – erschien, reflektiert durch den weißen, magisch glitzernden Schnee, die winterliche Landschaft in einem hellen, graublauen Schimmer, der es zuließ, die kleinen Fichtenbäumchen klar zu erkennen.
„Hi örre!“, sprach Emmerich fröhlich und mit Genugtuung – dort ist er! „Doss äss inser Kräsboom“ – das ist unser Weihnachtsbäumchen.
Vorsorglich, wie es seine Art war, hatte Emmerich bereits im Herbst einen roten Wollfaden an einem markant hervorstehenden Ast des Bäumchens gebunden – eine Voraussicht, die bewundernswert war und von jenem planenden Geist zeugte, der dem Menschen eigen ist.
Nun war es an der Zeit, und Martinus ging fachkundig ans Werk. Behände schüttelte er das Bäumchen, um es vom Schnee zu befreien – das gelang, verbunden mit einer Wolke von Schneekristallen, die durch die Nacht stoben und funkelnd zu Boden schwebten, ein Schauspiel von jener stillen Schönheit, wie sie nur die Natur zu inszenieren vermag.
Sodann scharrte er mit seinem rechten Stiefelabsatz den verbliebenen Schnee zur Seite. Es war ein stattlicher Weihnachtsbaum, fast drei Meter in der Höhe und am Boden gut eineinhalb Meter breit, aufrecht gewachsen, eine gleichmäßige Pyramide aus Ästen und Zweigen, ebenmäßig gewachsen – ein Exemplar, das jedem städtischen Weihnachtsmarkt zur Zierde gereicht hätte.
Drei bis vier Axthiebe am Stamm des Baumes, und schon neigte er sich sacht zu Boden. Dabei stieg ihnen ein typischer, unnachahmlicher Duft in die Nase: Fichtenharzduft und der Geruch von frisch geschlagenem Nadelholz, vermischt mit dem erdigen Duft von frischem Waldboden – ein Duftkonzert, ein olfaktorisches Gesamterlebnis, das geeignet war, sich tief in die Erinnerung einzuprägen.
Gerüche und Geschmäcker – so lehren uns kluge Wissenschaftler von Rang und Namen – sind elementare, urtümliche Sinneswahrnehmungen, die nicht trügen können, weil sie elementar erlebt werden. Das menschliche Stammhirn wird hier angeregt, ganz dicht dort, wo Emotionen und Gefühle ihre Heimat haben. Die ersten postnatalen Sinneseindrücke des Menschen, des Säuglings, sind wahrgenommene Gerüche und Geschmäcker, vertraute Geräusche der Mutter. Diese elementaren Sinneseindrücke, tief verankert, bleiben für immer. Sie prägen den Menschen sein Leben lang, vermitteln im besten Falle das Gefühl von Nähe, Vertrautheit und Geborgenheit.
X.
Martinus und er fassten das Bäumchen, nachdem sie es auf den Waldweg bugsiert hatten – Martinus vorne, da wo der Stamm gefällt war, er hinten an der Baumspitze. So wanderten sie den Weg zurück, Emmerich vorneweg, gemächlich, sich Zeit lassend, um sich unterhalten zu können.
Was nun im Verlauf der Unterhaltung folgte, war ein bereits mehrfach geführter Systemvergleich zwischen Deutschland Ost und Deutschland West, diesmal mit der Gegenüberstellung der jeweiligen Fahrzeugtypen: VW Käfer – landläufig Buckelporsche genannt – gegen Trabant – landläufig Rennpappe genannt. Der junge Knabe, bekennender Jungsozialist, versuchte die Vorzüge der Rennpappe hervorzuheben, doch Emmerich, pragmatisch wie immer, musste zugeben, dass der Buckelporsche in allen Punkten überlegen war – was jedoch keinen von beiden von seinen Grundüberzeugungen abbrachte.
Dabei gilt es zu berücksichtigen und zu bedenken: Zu jener Zeit war Deutschland in zwei Teile getrennt. Westdeutschland stand unter der Ägide einer kapitalistischen Weltordnung mit der Schutzmacht Amerika, Ostdeutschland unter einer kommunistischen Weltordnung mit der Schutzmacht Sowjetrussland. Mitten durch das Land zog sich der Eiserne Vorhang, streng von Osten her bewacht, nur unter Lebensgefahr überwindbar und mit drakonischen Strafen belegt – ein Eiserner Vorhang im Westen, ein antifaschistischer Schutzwall im Osten, je nachdem, von welcher Seite man die Sache betrachtete.
Dies führte auf beiden Seiten zu erbitterten, polarisierten Auseinandersetzungen. Dazu sei gesagt: Es war wohl besser, die rhetorischen Klingen zu kreuzen, als aufeinander zu schießen, zu bombardieren oder die ganze Welt in ein Höllenfeuer des Atompilzes zu verwandeln – eine Einsicht, die heute selbstverständlich erscheint, damals jedoch keineswegs war.
Dass er – der Knabe – bekennender Jungsozialist und Freigeist sei, der die Kirche kritisch sah und von einer Welt ohne Unterdrückung träumte, war im Dorf allgemein bekannt. Emmerich hingegen war das genaue Gegenteil: ein konservativer Pietist, tief im Glauben verwurzelt, der in Traditionen und göttlicher Ordnung die Rettung der Welt sah – und doch verband die beiden trotz aller weltanschaulichen Differenzen eine tiefe Freundschaft, die auf gegenseitigem Respekt und Zuneigung beruhte, weil beide im anderen die ehrliche Überzeugung und die persönliche Integrität erkannten.
Diese Diskurse zwischen dem freigeistigen jungen Sozialisten und dem pietistischen Konservativen wurden deutlich, ja zuweilen heftig ausgetragen – der jugendliche Idealist, der die alten Ordnungen stürzen wollte, gegen den erfahrenen Mann, der diese Ordnungen als gottgewollt und notwendig verteidigte. Es ging um Gott und die Welt, um Kirche und Sozialismus, um Autorität und Freiheit, um Tradition und Fortschritt. Zu keiner Zeit aber wurden die Debatten persönlich beleidigend, schon gar nicht nachtragend. Es wurde im Laufe der Jahre zu einer Art Ritual, von beiden gemocht, die Freundschaft in gewisser Hinsicht sogar belebend und festigend – so auch in dieser eiskalten, sternenfunkelnden Winternacht.
XI.
Zu Hause angekommen – es war fast Mitternacht geworden – legten sie das Bäumchen in die Waschküche des Hauses von Emmerich ab. Es müsse nun langsam auftauen, bemerkte Emmerich mit der Autorität des Erfahrenen, sonst würde es, prunkvoll mit Lametta, Weihnachtskugeln und Kerzen geschmückt, innerhalb von drei Tagen die Nadeln verlieren – eine Katastrophe, die niemand in Kauf nehmen wollte.
Emmerich bedankte sich herzlich und erbot sich, „noo Krässdoog“ – nach Weihnachten – die gute Hilfe mit heißer Fleischwurst und Brötchen zu vergelten, jener deftigen Leckerei, die im Klippdachsland als Inbegriff der Gastfreundschaft galt.
Die beiden Freunde nahmen diese Einladung dankbar und freudig nickend an. Emmerich klopfte ihnen noch freundschaftlich auf die Schultern – eine Geste, die mehr ausdrückte als Worte – und verschwand über die Waschküche in die warme Kochküche, wo ihn seine Gattin bestimmt schon erwartete.
Martinus und er gingen noch einige Meter bergan, dann gleich links – dort befand sich sein Elternhaus. Die Wohnstube war noch hell erleuchtet, man hörte Stimmen, Lachen, Geschirr klappern. Es roch nach Zigarrenduft, deftig nach gesottenem Schweinefleisch, nach Bier und Wein, nach Mayonnaise und sauren Gurken – jener Geruchsmischung, die Festlichkeit bedeutete.
Martinus musste noch ein paar Schritte nach links bergan gehen, um zu Hause anzukommen. Die Freunde klopften sich noch kurz auf die Schultern und verabschiedeten sich mit „Schloof gud bis mann“ – schlafe wohl, wir sehen uns morgen früh.
Er hingegen betrat sein Elternhaus wieder durch die Waschküche, entledigte sich seines Parkas, der Gummistiefel und der Rosshaar-Socken, die in der Kälte des Winters besonders beliebt waren, um warme Füße zu behalten – jene praktische Weisheit, die sich über Generationen bewährt hatte.
Wieder in der guten Stube angelangt, bot sich immer noch das gleiche fröhliche Bild einer Geburtstagsgesellschaft, nur bereits deutlich gelichtet – die Standhafteren waren geblieben, die Schwächeren hatten sich bereits verabschiedet.
„Suu spiere kimmt Du hääm? Meer doochde school ouch wer woss beserd“, sprach die besorgte Mutter Dragmarie – warum kommst du so spät nach Hause? Wir dachten schon, euch wäre etwas passiert.
„Jezz awwer schnell eins födder iiz Bädde“ – nun aber husch husch zu Bett.
Er, müde und durchgefroren, hatte nichts dagegen und verabschiedete sich kurz mit „Gu Nachd“ – gute Nacht.
Und während er die knarrenden Stufen zur Schlafkammer emporstieg, hallten in seinem müden Geist noch die Worte Emmerichs nach, vermischt mit dem Duft von Fichtenharz und dem Glitzern der Schneekristalle im Mondlicht – Eindrücke, die sich tief in jene Schichten der Seele eingruben, wo Erinnerungen für die Ewigkeit bewahrt werden.
Esche, Erle und viele andere Pioniergewächse, die schon nach einigen Jahren einen robusten Niederwald bildeten – artenreich für Flora und Fauna, wunderschön anzuschauen und ein lebendiges Beispiel dafür, dass die Natur, wenn man sie nur lässt, ihre eigenen, oft besseren Wege findet.
Dies jedoch war die Zukunft. In jener Winternacht, da die drei Freunde durch den noch intakten Palmweg wanderten, ahnte niemand, welche Katastrophen und welche Hoffnungen die kommenden Jahrzehnte bereithalten würden.
XIII. Von der Kunst des Wiedersehens
Die Tage nach jenem ersten Raunachtstag vergingen in jener eigentümlichen Langsamkeit, die den Winterferien eigen ist – eine Zeit zwischen den Zeiten, da die üblichen Rhythmen des Alltags suspendiert scheinen und Raum entsteht für jene Besinnung, die das Leben so selten gewährt.
Wenige Tage später – es war bereits nach dem Weihnachtsfest, jenem Fest, das in seiner kommerziellen Überhöhung oft vergessen lässt, worum es eigentlich geht – hielt Emmerich sein Versprechen. Die Einladung zu heißer Fleischwurst und Brötchen wurde ausgesprochen, nicht förmlich, sondern in jener selbstverständlichen Art, die wahre Freundschaft auszeichnet.
Sie trafen sich in Emmerichs Wohnküche, jenem Raum, der das Zentrum des Hauses bildete – warm, nach Kaffee und Hausmannskost duftend, erfüllt von jener behaglichen Atmosphäre, die entsteht, wenn Menschen sich seit Jahrzehnten an einem Ort heimisch fühlen.
Die heiße Fleischwurst, in kochendem Wasser gegart und noch dampfend auf dem Teller liegend, die frischen Brötchen vom Bäcker Kunz – der sein Handwerk noch verstand und nicht jene industriell gefertigten Teiglinge verkaufte, die heute überall feilgeboten werden –, dazu ein Glas Apfelschorle: Es war ein einfaches Mahl, und doch von jener Qualität, die nur hausgemachte Speisen in guter Gesellschaft erreichen können.
Emmerichs Gattin – eine resolute, aber herzliche Frau, deren Name hier aus Gründen der Diskretion ungenannt bleiben mag – schenkte Kaffee nach und erkundigte sich bei den beiden jungen Gästen nach Schule und häuslichen Verhältnissen, wobei sie jene mütterliche Fürsorge an den Tag legte, die über die eigenen Kinder hinausreicht und das ganze Dorf umfasst.
XIV. Politische Diskurse am Küchentisch
Nach dem Essen – die Teller waren geleert, die Mägen gefüllt, eine wohlige Zufriedenheit hatte sich ausgebreitet – entspann sich eines jener Gespräche, die für die Freundschaft zwischen dem Knaben und dem um Jahrzehnte älteren Emmerich so charakteristisch waren.
Es war, wie so oft, ein politischer Diskurs, wobei das Wort „Diskurs“ vielleicht zu akademisch klingt für das, was sich da abspielte: eine leidenschaftliche, bisweilen heftige, aber stets respektvolle Auseinandersetzung über die großen Fragen der Zeit.
Deutschland war geteilt – dies war die Grundtatsache, von der alles ausging. Im Westen eine parlamentarische Demokratie unter kapitalistischen Vorzeichen, unter dem Schutzschirm der Vereinigten Staaten von Amerika; im Osten eine sozialistische Diktatur – oder, je nach Standpunkt, ein Arbeiter-und-Bauern-Staat – unter der Ägide der Sowjetunion.
Mitten durch das Land, mitten durch Städte, mitten durch Familien zog sich der Eiserne Vorhang – im Westen so genannt, im Osten euphemistisch als „antifaschistischer Schutzwall“ bezeichnet. Eine Grenze, streng bewacht, mit Minen, Selbstschussanlagen und Wachtürmen versehen, nur unter Lebensgefahr zu überwinden und mit drakonischen Strafen belegt.
Diese Teilung führte zu erbitterten, polarisierten Auseinandersetzungen, auch und gerade im privaten Bereich. Familien zerbrachen daran, Freundschaften gingen in die Brüche, das Land war gespalten nicht nur geographisch, sondern auch emotional und ideologisch.
Dass Emmerich ein überzeugter Konservativer war – pietistisch geprägt, tief verwurzelt in Tradition und christlichen Werten, ein Verfechter von Ordnung, Autorität und bewährten Strukturen –, war im Dorf allgemein bekannt. Dass der junge Knabe hingegen als bekennender Jungsozialist und Freigeist galt, der die alten Autoritäten in Frage stellte und von einer gerechteren, freieren Gesellschaft träumte, war ebenso bekannt. Und doch verband die beiden eine tiefe Freundschaft, die gerade aus diesem Gegensatz ihre besondere Kraft bezog.
Dass er, wenn der Russe käme – eine Formulierung, die in jenen Jahren des Kalten Krieges durchaus noch als reale Möglichkeit im Raum stand – unmittelbar zum Bürgermeister ernannt würde, war seine feste Überzeugung und erfüllte ihn mit einem gewissen Stolz, der mehr mit persönlicher Integrität und dem Gefühl, auf der richtigen Seite der Geschichte zu stehen, zu tun hatte als mit Machtstreben oder Eitelkeit.
Der Knabe – noch zu jung, um die Komplexität der Verhältnisse ganz zu durchschauen, aber alt genug, um zu spüren, dass hier Grundfragen menschlichen Zusammenlebens verhandelt wurden – war bekennender Jungsozialist und Freigeist: Er glaubte an die sozialistische Idee, an Gleichheit und Gerechtigkeit, an eine Gesellschaft ohne Ausbeutung und ohne die Fesseln überkommener Autoritäten. Er stellte die Kirche in Frage, zweifelte an den Traditionen, träumte von einer freien, emanzipierten Welt – Überzeugungen von jener idealistischen Reinheit, wie sie nur der Jugend eigen ist.
Emmerich vertrat das genaue Gegenteil: konservativ, pietistisch geprägt, fest verwurzelt in christlichen Werten und der Überzeugung, dass Ordnung, Tradition und Autorität die Grundpfeiler einer funktionierenden Gesellschaft seien. Er glaubte an die bewährten Strukturen, an Pflicht und Disziplin, an die göttliche Ordnung der Welt.
Martinus hielt sich oft zurück, vermittelte zwischen den Positionen, neigte aber eher Emmerichs konservativer Weltsicht zu, wenn auch weniger streng und dogmatisch.
Diese Diskurse wurden deutlich, ja zuweilen heftig geführt – Stimmen wurden lauter, Argumente schärfer, Gesten nachdrücklicher. Aber – und dies ist das Entscheidende – zu keiner Zeit wurden sie persönlich beleidigend, schon gar nicht nachtragend. Wenn die Debatte beendet war, klopfte man sich freundschaftlich auf die Schultern, lachte über einen guten Witz, und die Welt war wieder in Ordnung.
Es wurde im Laufe der Jahre zu einer Art Ritual, von beiden Seiten gemocht, die Freundschaft in gewisser Hinsicht sogar belebend und festigend. Denn – und auch dies ist eine Lehre, die aus dieser Freundschaft zu ziehen ist – wahre Freundschaft erträgt Meinungsverschiedenheiten nicht nur, sondern kann sogar an ihnen wachsen, vorausgesetzt, dass gegenseitiger Respekt und Zuneigung die Grundlage bilden.
„Besser, die rhetorischen Klingen zu kreuzen“, pflegte Emmerich zu sagen, wenn die Debatte besonders hitzig wurde, „als aufeinander zu schießen oder die ganze Welt in ein Höllenfeuer des Atompilzes zu verwandeln.“ Und in dieser Hinsicht waren sich alle einig – selbst der junge Jungsozialist, Emmerich und Martinus: der Friede, auch wenn er von ideologischen Spannungen durchzogen war, blieb allemal dem Krieg vorzuziehen.
XV. Reflexionen über Technik und Fortschritt
An einem der folgenden Tage entspann sich zwischen den Freunden eine Unterhaltung über technischen Fortschritt – jenes Thema, das das zwanzigste Jahrhundert wie kein anderes prägte und das auch im Klippdachsland seine Spuren hinterließ.
Es ging, wie so oft bei derartigen Vergleichen, um Automobile: den VW Käfer – landläufig und liebevoll „Buckelporsche“ genannt – gegen den Trabant – ebenso landläufig, aber weniger liebevoll „Rennpappe“ genannt.
Der Vergleich fiel eindeutig aus: Der Käfer schlug den Trabant in nahezu allen Kategorien – Geschwindigkeit, Komfort, Verarbeitung, Langlebigkeit. Dies musste selbst der junge Jungsozialist eingestehen, wenn auch widerwillig. Aber – und hier zeigte sich seine idealistische Denkweise – der Trabant sei immerhin ein Automobil, das es auch einfachen Arbeitern ermögliche, am motorisierten Verkehr teilzunehmen, während der westliche Wohlstand auf Ausbeutung und Ungerechtigkeit beruhe.
„Im Osten“, argumentierte der Knabe mit der Leidenschaft der Jugend, „hat jeder Arbeiter Anspruch auf ein Auto. Im Westen schafft der Kapitalismus künstliche Unterschiede zwischen den Menschen.“
Emmerich entgegnete mit der Ruhe des Gläubigen: „Gott hat die Ordnung der Welt so eingerichtet. Nicht Gleichmacherei bringt Frieden, sondern wenn jeder seinen von Gott gegebenen Platz einnimmt und seine Pflicht erfüllt. Der Mensch braucht Führung, Ordnung und den Glauben – nicht falsche Versprechungen von Gleichheit.“
Dass zwischen Anspruch und Verfügbarkeit im Osten eine Wartezeit von zehn bis fünfzehn Jahren lag, wurde vom jungen Idealisten geflissentlich übergangen – ein Detail, auf das Emmerich und Martinus prompt hinwiesen. Der Knabe quittierte dies mit trotzigem Achselzucken: „Gut Ding will Weile haben. Rom wurde auch nicht an einem Tag erbaut.“
Diese Debatten über Konsumgüter – sie mögen dem unbeteiligten Beobachter trivial erscheinen – waren in Wahrheit Stellvertreterdiskussionen über die großen Systemfragen: Freiheit oder Gleichheit? Effizienz oder Gerechtigkeit? Individualismus oder Kollektivismus?
Dass keine dieser Fragen eine einfache Antwort hatte, dass beide Systeme ihre Stärken und Schwächen besaßen, dass die Wahrheit – wenn es denn eine gab – irgendwo dazwischen lag: Diese Einsicht dämmerte langsam, wurde aber nie ganz ausgesprochen, denn das hätte den Reiz der Debatte gemindert.
XVI. Das Ende der Raunächte
Die Raunächte gingen zu Ende – jene mystische Zeit zwischen den Jahren, da, wie der Volksglaube weiß, die Grenzen zwischen den Welten durchlässig werden und Geister wandeln.
Ob Geister wandelten, sei dahingestellt. Was aber gewiss ist: Es war eine Zeit der Besinnung, der Langsamkeit, der Gespräche und der Erinnerungen – eine Zeit, die im hektischen Lauf des Jahres selten wiederkehrt.
Der Weihnachtsbaum, den sie gemeinsam geschlagen hatten, stand nun in Emmerichs guter Stube, geschmückt mit Lametta, bunten Kugeln und echten Kerzen – jenen Kerzen, die, im Gegensatz zu den heutigen elektrischen Lichterketten, eine wirkliche Gefahr darstellten und ständige Aufmerksamkeit erforderten, aber auch eine Wärme und Authentizität verbreiteten, die künstliches Licht nie erreichen kann.
Die Nadeln, dank des langsamen Auftauens in der Waschküche, hielten stand und fielen erst nach dem Dreikönigstag, als der Baum seine Schuldigkeit getan hatte und abgeschmückt wurde – ein Prozess, der stets mit einer gewissen Wehmut verbunden war, markierte er doch das endgültige Ende der festlichen Zeit.
Das neue Jahr hatte begonnen, und mit ihm die Rückkehr in den Alltag: Schule für den Knaben, Arbeit für die Erwachsenen, die üblichen Verrichtungen und Pflichten.
Aber etwas war geblieben: die Erinnerung an jene Nacht im Schnee, an den Duft der Fichten, an das Glitzern der Sterne, an die Gespräche mit Emmerich – Erinnerungen, die sich in jene Schichten der Seele eingruben, wo das Wesentliche bewahrt wird.
XVII. Nachwort des Erzählers
Viele Jahre später – der Knabe war längst zum Mann geworden, Emmerich und Martinus waren, wie es im Leben so geht, verstorben, das Klippdachsland hatte sich verändert, ohne doch sein Wesen ganz zu verlieren – kam er wieder an jenen Ort, wo einst der Palmweg gewesen war.
Die Fichten waren verschwunden, Opfer des Klimawandels und menschlicher Kurzsichtigkeit. Aber an ihrer Stelle war etwas Neues gewachsen: ein wilder, artenreicher Niederwald, der mehr Leben beherbergte als die Monokultur je getan hatte – ein Hoffnungszeichen, dass die Natur, wenn man sie lässt, ihre eigenen Wege findet.
Er stand dort, ein Mann in mittleren Jahren, und erinnerte sich: an Großmutter Friedelindes Geburtstag, an den widerspenstigen Ölofen, an die unbequemen Quälhölzer, an Wilhelm Weiß mit seinem alljährlichen Lamento, an den gefräßigen Pfarrer, an Emmerichs „Jeep“ in der Winternacht.
Und er verstand plötzlich – mit jener Klarheit, die manchmal aus der zeitlichen Distanz erwächst – dass all diese scheinbar belanglosen Episoden in Wahrheit die Substanz des Lebens ausmachten: kleine Begebenheiten, eingebettet in den Rhythmus der Jahreszeiten und der Generationen, getragen von Beziehungen zwischen Menschen, die einander kannten, respektierten und manchmal sogar liebten, trotz aller Unterschiede.
Die Trampelböcke und Quälhölzer – jene widerspenstigen Gegenstände, die nie so funktionierten, wie sie sollten – waren Metaphern für das Leben selbst, das auch nie so läuft, wie man es plant, und doch gerade in seiner Unvollkommenheit seinen Reiz besitzt.
Emmerich, der fromme Konservative und Pietist, der an göttliche Ordnung und bewährte Traditionen glaubte und dem jungen Freigeist mit Geduld und väterlicher Strenge begegnete – er hatte sein Leben nach seinen Überzeugungen gelebt, im Glauben und in der Pflicht, und das war mehr wert als alle weltlichen Erfolge.
Martinus, der stille Vermittler mit seinem Handwerkszeug und seiner Bügelsäge, der zwischen dem pietistischen Konservativen und dem freigeistigen Sozialisten die Balance hielt – er hatte gewusst, dass manchmal Taten mehr sagen als Worte.
Und er selbst, der damalige Knabe und bekennende Jungsozialist – er hatte gelernt, dass die wahren Schätze des Lebens nicht in politischen oder weltanschaulichen Überzeugungen liegen, sondern in solchen Momenten: eine Winternacht, ein Weihnachtsbaum, eine Freundschaft, die den tiefsten ideologischen Graben überbrückt, der denkbar ist – den zwischen einem freigeistigen Sozialisten und einem frommen Pietisten –, weil der Mensch wichtiger ist als das System, weil Respekt und Zuneigung stärker sind als Ideologie.
So stehen die Dinge – und der Erzähler, der diese Geschichte niedergeschrieben hat in der Hoffnung, etwas von jener vergangenen Welt zu bewahren, legt nun die Feder nieder in dem Bewusstsein, dass Worte immer nur Annäherungen sind an das, was wirklich war, und doch das Einzige, was uns bleibt, wenn die Menschen gegangen und die Orte verwandelt sind.
Die Raunächte kehren jedes Jahr wieder – die Zeit zwischen den Jahren, da die Welt innehält und Raum entsteht für Erinnerung und Besinnung. Möge jeder, der diese Zeilen liest, seine eigenen Raunächte haben: Momente der Stille, der Gemeinschaft, der Verbindung mit dem, was wirklich zählt.
Und möge das Klippdachsland – ob es nun real existiert oder nur in der Imagination des Erzählers – als Symbol dienen für all jene kleinen Welten, die es überall gibt und die es zu bewahren gilt: Orte, wo Menschen noch miteinander reden, wo Freundschaft über Meinungsverschiedenheiten siegt, wo die Natur noch Natur sein darf.
In diesem Sinne: Schloof gud. Bis mann.
Ende
Geschrieben im Gedenken an all jene, die in ihrer Zeit lebten, so gut sie konnten, und uns Geschichten hinterließen, die es wert sind, erzählt zu werden.